2019 hat alles begonnen: Mit dem Probebetrieb des damals neuen Geothermie-Kraftwerks nördlich von Straßburg wurde eine erdbebenreiche Zeit für umliegende Orte eingeläutet. Erst kleine Erdbeben, die schnell häufiger und stärker wurden. Ein vorzeitiges Betriebsende wegen zu großer Erdbebengefahr sollte Schlimmeres verhindern. Doch die Erdbeben hielten an. So kam es mit Magnitude 4 heute zum bislang stärksten Erdbeben der ganzen Sequenz. Sieben Monate nach Betriebsende. Wie kann das sein?

Geothermie-Kraftwerke sind eine nachhaltige und umweltfreundliche Möglichkeit, Energie zu erzeugen. Die natürliche Hitze der Erde wird CO2-Neutral genutzt, indem Wasser in mehreren Kilometern Tiefe erhitzt wird. Was vielerorts auf der Welt problemlos funktioniert und teilweise den Energiebedarf von Großstädten decken kann, hat sich am Oberrhein in den letzten Jahren gelegentlich als problematisch erwiesen. Mit dem jüngsten Geothermie-Kraftwerk Vendenheim-Reichstett bei Straßburg wurden nicht nur fahrlässig die stärksten jemals dort registrierten induzierten Erdbeben verursacht, sondern auch das eigentliche Ampelsystem zur Verhinderung solcher Erdbeben ins Zentrum der Kritik gestellt.

Erdbeben gehören zu Tiefengeothermie-Kraftwerken wie sie zu Steinkohlezechen oder Erdgasproduktionsstätten gehören. Rohstoffgewinnung ohne geologische Risiken ist generell nicht oder nur sehr schwer möglich. Beim Bergbau ist es das Ausbeuten der Lagerstätten, das die Spannungsverhältnisse im Untergrund so beeinträchtigen kann, dass Erdbeben ausgelöst werden. Bei der Geothermie ist es umgekehrt: Hier wird etwas der Erdkruste zugeführt, was für Instabilität sorgt. Wasser.

Wir kennen das Problem von nassen Fußböden. Versuchen wir mit profilarmen Schuhen über frisch gereinigte Oberflächen zu laufen, finden wir oft nur schwer Halt. Es besteht hohe Rutschgefahr. Was Wasser an der Erdoberfläche auslöst, tut es auch in mehreren Kilometern Tiefe: Es bringt Sachen ins Rutschen.

Erdbeben entstehen, wenn zwei Gesteinssegmente sich ruckartig gegeneinander bewegen. Meist geschieht dies an bereits vorhandenen Schwächezonen, den Störungen, an denen das Gestein bereits seit Jahrmillionen aneinander reibt. Getrieben durch tektonische Prozesse baut sich über Jahrhunderte Druck auf, bis ein kritischer Wert erreicht ist und das Gestein plötzlich nachgibt. Je höher der Druck, umso größer die plötzliche Bewegung und umso größer das Erdbeben. Dieser Zyklus wiederholt sich solange bis durch großräumige tektonische Änderungen der stetige Energieaufbau gestört wird. Prozesse, die in menschlichen Zeitskalen nicht mehr erfassbar sind.

Bringen wir nun Wasser ins Spiel, wird dieser Erdbebenzyklus unterbrochen. Natürliches Wasser, das fast überall in der Erdkruste vorkommt, gilt als finaler Auslöser von großen Erdbeben, Erdbebenschwärmen und erschütterungslosen Bewegungen wie aseismisches Kriechen oder auch Slow-Slip-Ereignisse („Langsame Erdbeben“). Durch natürliche Prozesse bewegt sich Wasser durch das Gestein. Trifft es dabei auf eine stark angespannte Störung, bringt es das noch stabile System ins Wanken. Und damit sehr bald auch die Erdoberfläche.

Geothermie-Anlagen bringen zusätzliches Wasser in die Erdkruste. Je mehr Energie gewonnen werden soll, umso mehr Wasser ist nötig. Doch mit steigendem Wasservorkommen in der Kruste steigt auch die Wahrscheinlichkeit für Erdbeben. Zahlreiche Studien zeigten in der Vergangenheit einen direkten Zusammenhang zwischen Wasservolumen (oder sonstige Fluide) und Seismizität an Geothermalanlagen, aber auch in Untergrundspeichern, Stauseen und bei der Hydraulischen Stimulation. Dies bringt einen Vorteil gegenüber natürlich vorkommendem Wasser: Man kann die Erdbebengefahr bis zu einem gewissen Grad kontrollieren.

Hier greift das übliche Ampelsystem. Vereinfacht gesagt möchte man damit die Grenzen des Machbaren ausreizen. Man injiziert Wasser (zur Energiegewinnung) ins Gestein und misst die dabei entstandenen Mikrobeben. Schon sehr geringe Mengen Wasser lösen Mikrobeben aus, die aber so schwach sind, dass selbst hoch empfindliche Messgeräte diese kaum detektieren können. Mit steigerndem Wasservolumen steigt auch die Erdbebenanzahl und damit die Erdbebenstärke an. Das Ampelsystem warnt an dem Punkt, an dem Erdbeben sich der Wahrnehmungsschwelle annähern. Heißt für die Wassermenge: Bis hierhin und nicht weiter.

So der Idealfall. Und so ähnlich könnte man es auch beim Bergbau anwenden (was auch teilweise der Fall ist). Hier ist es die Fördermenge und damit die Größe des entstandenen Hohlraums, der mehr oder weniger entscheidend für Erdbebenhäufigkeit und -Stärke ist. Werden die Beben zu stark, beendet man die Förderung an der Stelle und das instabile System kann sich entspannen. Nach Bergbauende nimmt die Erdbebenaktivität schnell ab. So auch im Idealfall nach der Beschränkung der Wassermenge bei der tiefen Geothermie. Aber einen entscheidenden Unterschied gibt es: Der Hohlraum, bzw. die Spannungsänderungen beim Bergbau sind ortsfest. Wasser jedoch kann sich bewegen.

Wird also die Notbremse bei der Geothermie gezogen, weil die Erdbeben im unmittelbaren Umfeld der Injektionsbohrung zu stark werden, entspannt sich das System an dieser Stelle, weil das Wasser langsam aber sicher abfließt. Das heißt: Es bewegt sich weiter, aber verschwindet nicht einfach so. Ab diesem Punkt verhält es sich, wie natürlich vorkommendes Wasser. Es wird, getrieben durch die äußeren Bedingungen, durch das Gestein wandern. Trifft es dabei auf eine Störung, die kritisch unter Druck steht, bringt es das System ins Wanken und damit auch die Erdoberfläche.

Trotz Betriebsende: Das Wasser ist weiterhin in der Erdkruste und hat auf seinem Weg durch die Tiefe eine neue Störung getroffen und dort das gemacht, was Wasser in der Erdkruste sonst auch tut. Und das Wasser wird auch noch für einige Zeit in der Kruste verbleiben. Trifft es dabei auf weitere Störungen, die unter großer Spannung stehen, könnte auch das geringe Volumen, was direkt an der Injektionsbohrung vielleicht gerade noch wenig genug war, um schlimmeres zu verhindern, ausreichen, um größere Bewegungen in Gang zu setzen. Oder es verläuft in den Rissen des Grundgebirges, ohne weitere Auswirkungen zu haben.

Umweltfreundlich, CO2-Neutral aber mit den gleichen geologischen Risiken verbunden wie jede Form von Bergbau. Die Erdbebengefahr bei Tiefengeothermieprojekten ist bis zu einem gewissen Grad kontrollierbar, indem man aufs Ampelsystem setzt. Bei geringen Volumina kann so weitestgehend Kontrolle über das System behalten werden. Bei zu viel Risikofreude, schlichter Ignoranz oder zu später Reaktion (Hallo, liebe Betreiber von Vendenheim-Reichstett! Sucht euch die auf euch zutreffende Eigenschaft aus.) kann diese Kontrolle jedoch schnell verloren gehen. Denn auch sieben Monate nach Betriebsende ist das Wasser noch da, wenn auch nicht mehr genau dort, wo man es haben wollte. Und was dort dann passiert, ist Sache der natürlichen Gegebenheiten.