Viele Städte im Süden der Türkei und angrenzenden Gebieten Syriens haben unter der jüngsten Erdbebenkatastrophe gelitten. Bilder aus der Erdbebenregion zeigen viele eingestürzte Häuser, völlig verwüstete Innenstädte und eine geisterhafte Atmosphäre in den einst lebendigen Großstädten. Eines der verbreitetsten Beispiele für die Zerstörung des Bebens kommt aus der Stadt Antakya (Hatay) im äußersten Süden: Fahrt durch eine Straße, die von Trümmern einer einstigen Wohnsiedlung umgeben ist. Jedes Haus: Eingestürzt. Auch im Hintergrund: Mehr Zerstörung als Leben. Antakya liegt am Boden. Die Geschichte des historischen Antiochs wiederholt sich.

Die Zahl der Todesopfer nach den beiden großen Erdbeben (M7.8 und 7.5) ist bis zum Dienstagmorgen auf 4365 gestiegen. Mehr als 19.000 Menschen wurden verletzt. Noch immer ist unklar, wie viele Häuser tatsächlich zerstört wurden. Betrachtet man die Bilder aus dem Katastrophengebiet, möchte man sich mit Schätzungen zurück halten. Sie könnten zu optimistisch sein. Von Malatya im Osten bis nach Idlib im Süden stürzten Häuser ein. Hatay, gelegen im südlicheren Bereich des betroffenen Gebietes, ist aufgrund der Bilder aus Antakya besonders in den Medien präsent.

Antakya, moderner Nachfolger der historischen Weltstadt Antioch. Antioch, die einstige Weltstadt, die in ihrer Geschichte wohl mehr schwere Erdbeben erlebte als die meisten vergleichbaren Orte. Die Geschichte von Tod und Zerstörung reicht bis in vorchristliche Zeiten zurück. 148 v. Chr., 115 n. Chr., 526, 587 und 1114 blieb von der Stadt wenig übrig und jeweils Zehntausende starben.

Lage bestimmt Erdbebenrisiko

Für Handel und Politik sehr günstig aber geologisch extrem instabil ist die Lage nahe einer Flussmündung im Hinterland der östlichen Mittelmeerküste. Hier treffen gleich drei tektonische Platten aufeinander und mit ihnen drei große Störungszonen: Im Südosten befindet sich die Arabische Platte, im Norden die Anatolische und im Südwesten die Afrikanische. Während Afrika und Eurasien vor der Küste kollidieren und eine Subduktionszone formen, bewegt sich Arabien horizontal ein seinen Nachbarn vorbei. Die Totes-Meer-Störung im Süden und die Ostanatolische Störung im Norden bilden die Reibungsfläche, an der sich das Gestein verhakt.

Übersicht großer Störungen und historischer Erdbeben mit mutmaßlichen Bruchzonen. Antakya liegt am Karasu-Zweig (KF) der Ostanatolischen Störung (EAF) nahe des Übergangs zur Zypern-Subduktion. Das stärkste Erdbeben in junger historischer Zeit, ein M7.2 im Jahr 1872, brach an diesem Segment und zerstörte ein Drittel aller Gebäude in Antakya. Es war das bis gestern letzte große Erdbeben dort. Grafik aus: Meghraoui (2015)

Gleichzeitig birgt die für Landwirtschaft und Siedlung günstige Lage in einem Talkessel bei Erdbeben ein zusätzliches Risiko: Der weiche, wassergesättigte Boden reagiert bei starken Erschütterungen wie ein Verstärker für Erdbebenwellen, die von umliegenden Berghängen reflektiert und auf die Stadt zurückgeworfen werden. Gebäude der Antike oder des Mittelalters haben kaum eine Chance, ein solches Beben zu überstehen.

Und auch im Industriezeitalter haben viele Häuser den Erschütterungen nachgegeben, obwohl die Voraussetzungen deutlich besser waren. Nicht nur, dass generell die Möglichkeiten zum erdbebensicheren Bauen existieren. Die mehr als 2000 jährige Geschichte mit vielen zerstörerischen und noch viel mehr schädlichen Erdbeben liefert einen klaren Hinweis auf das, was in Zukunft (also: Gestern) wieder passieren wird. Zudem haben zahlreiche Studien in den letzten Jahren das seismische Risiko und Vulnerabilität von Antakya erforscht. (z. B. Abrahamczyk 2013)

Erdbebenrisiko in Antakya dennoch unterschätzt?

Die Ergebnisse damals scheinen angesichts der Bilder ein wenig überraschend. Erdbebensicheres Bauen sei demnach zwar nicht sehr weit verbreitet, auch weil die meisten Gebäude vor Einführung der strikten Bauvorschriften errichtet wurden. Aber dennoch seien die meisten Häuser vergleichsweise modern und nicht der höchsten Anfälligkeit zuzuordnen. Wildwuchs der Städte, unkontrollierter Anbau von Gebäudeteilen und Vorschäden durch frühere kleinere Beben wurden aber durchaus als Risikofaktoren benannt.

Zudem sind Szenarien immer darauf begrenzt, dass Erdbeben den Erwartungen folgen. Das gestrige Erdbeben war mit Magnitude 7.8 stärker als das meiste, was aus historischer Zeit bekannt war. Zudem, so scheint es, brach die Ostanatolische Störung bis ganz in den Süden, vor die Tore Antakyas. Nachbeben am Ostende der Subduktionszone lassen zudem darauf schließen, dass sich auch dort was bewegt hat.

Dennoch bleibt die Frage, ob wie weit die Realität mit den Szenarien übereinstimmt oder ob Antakya 2023, wenn auch bei weitem nicht vollständig zerstört, eher mit Antioch zu vergleichen ist. Zu diesem Zeitpunkt sind die Schadensdaten noch nicht so präzise, ob das abschließend beurteilen zu können. Ebenso steht auch noch Forschung zum Erdbeben selbst aus. Dennoch ist klar, dass es beim nächsten Mal keine Vergleiche mit der Vergangenheit mehr geben darf. Antiochs Erbe muss abgelegt, Gebäude wieder aufgebaut und für das nächste Erdbeben gerüstet werden. Die Türkei und der Nahe Osten müssen aus der Katastrophengeschichte lernen. Eine fünfstellige Opferzahl, wie sie aktuell noch immer befürchtet wird, muss und darf nicht sein. Auch nicht bei Magnitude 7.8.

 

Quellen:

Abrahamczyk, L.; Schwarz, J.; Langhammer, T.; Genes, M. C.; Bikçe, M.; Kaçin, S.; Gülkan, P. (2013). Seismic Risk Assessment and Mitigation in the Antakya–Maras Region (SERAMAR): Empirical Studies on the Basis of EMS-98. Earthquake Spectra, 29(3), 683–704. doi:10.1193/1.4000163

Meghraoui, M. (2015). Paleoseismic history of the Dead Sea fault zone.

National Geophysical Data Center / World Data Service (NGDC/WDS): NCEI/WDS Global Significant Earthquake Database. NOAA National Centers for Environmental Information. doi:10.7289/V5TD9V7K