Mehr als zwei Tage nach der Erdbebenkatastrophe an der Grenze der Türkei und Syriens werden immer mehr Opfer geborgen. Über 12.000 Tote sind inzwischen bestätigt, 50.000 Menschen wurden verletzt und Hunderttausende obdachlos. Die Katastrophe dauert nun vor allem in humanitärer Form an. Ebenso die Nachbeben, die mit Magnitude 4 bis 5 alle ein bis zwei Stunden verschiedene Segmente der aufgebrochenen Ostanatolischen Störung erschüttern. Spannend wird es auch im Süden: Als Stressreaktion auf das große Erdbeben in der Türkei kam es in den letzten Stunden vermehrt zu kleinen Erdbeben im Libanon, in Israel und Palästina. Die Totes-Meer-Störung regt sich.

Wie bereits in einem früheren Beitrag erwähnt, bahnt sich im Nahen Osten möglicherweise eine seismische Kettenreaktion an. Nach dem initialen M7.8 Erdbeben kam es innerhalb weniger Stunden zu einem zweiten mit M7.6. Beide Beben brachen unterschiedliche Zweige der Ostanatolischen Störung und folgten auf ein M6.8 an einem benachbarten Zweig im Jahr 2020. Magnitude 7.8, sowas ist unter den dortigen Umständen nicht nur extrem zerstörerisch, es kann auch weitreichende geologische Auswirkungen haben.

Bruchzonen (rote Linien) und Nachbeben der Haupterdbeben am 6. Februar. Getriggerte Erdbeben (in roten Kreisen) und Falschdetektionen (Blaue Kreuze) in entfernteren Regionen. Erdbebendaten: EMSC. Stand: 8. Februar, 9 Uhr

Um mehrere Meter haben sich bei dem Erdbeben die Erdplatten entlang der Störung verschoben. Bis zu drei Meter wurden dabei Straßen, Felder und Eisenbahnlinien versetzt. Dieser Bruch setzt sich bis in 20 Kilometern Tiefe fort. Dabei führt die plötzliche Verschiebung in einem Abschnitt dazu, dass im benachbarten Abschnitt der Druck steigt. Wie in einem Stau, wenn das hintere Auto plötzlich nach vorne fährt. Erst kommt es zur Kollision und irgendwann wird das vordere Auto angeschoben.

Erdbeben-Verschiebung im Norden drückt auf Störungszonen im Süden

Dies droht nun an der Totes-Meer-Störung. Diese grenzt unmittelbar südlich an die Ostanatolische Störung an und wartet, ähnlich wie der nördliche Nachbar bis vor wenigen Tagen, seit Jahrhunderten auf das nächste große Erdbeben. Der Druck der Erdplatten aus der Türkei hat die Spannung zwischen Syrien und dem Toten Meer erhöht. Hinzu kommt die Energie, die durch die Erdbebenwellen der Haupt- und vielen Nachbeben auf die Störung wirkt.

Eine erste Reaktion zeigte sich bereits unmittelbar nach dem ersten Erdbeben, als es in Jordanien am Südufer des Toten Meeres zu zwei kleinen Erdbeben kam. Ein Tag später, am Dienstag, setzte nahe Nablus in Palästina eine Erdbebenserie ein: Zwei Erdbeben über Magnitude 3, zehn über Magnitude 2. Es kam zu Schäden an einzelnen Gebäuden. Die Sequenz dort dauert an.

Auch im angrenzenden Libanon bebte es: Zwei Erdbeben um Magnitude 3 innerhalb weniger Stunden nach dem ersten Hauptbeben ereigneten sich nahe Beirut. Ein weiteres Erdbeben ereignete sich am heutigen Abend im Norden des Landes und erreichte Magnitude 4.2. Dieses war bis in die Küstenstädte und in den Norden Israels zu spüren, könnte nahe des Epizentrums leichte Schäden verursachen und war das bisher stärkste getriggerte Erdbeben entlang oder im Umfeld der Totes-Meer-Störung.

Starke Zunahme der Erdbebenaktivität in den letzten drei Tagen

Wie signifikant die jüngste Zunahme der Erdbeben nach dem Türkei-Hauptbeben ist, zeigt ein Vergleich mit dem Zeitraum zuvor. So registrierte der israelische Erdbebendienst in den letzten 30 Tagen 14 Erdbeben über Magnitude 2.5 zwischen der libanesisch-syrischen Grenze und dem Toten Meer. 13 davon in den letzten 48 Stunden. Ein Zeichen, dass das Türkei-Erdbeben weitreichende Effekte bis ans Tote Meer hatte und dort nun, wie auch im näheren Umfeld des Hauptbruchs, das Risiko weiterer, auch schwerer Erdbeben erhöht ist.

Da sich die zusätzliche Spannung nicht einfach abbaut, könnte die Erdbebenaktivität in dem Gebiet auch langfristig erhöht bleiben. Das Risiko eines (oder mehreren) großen, katastrophalen Erdbebens, wie dort mehrfach in den vergangenen 2000 Jahren geschehen, steigt kurzfristig ebenfalls. Wahrscheinlich ist, dass dessen Eintreffen mit den Ereignissen im Norden beschleunigt wurde. Ob es aber unmittelbar bevor steht oder erst in einigen Jahren passiert, lässt sich natürlich nicht vorhersagen. Die zunehmende Seismizität in der Region sollte aber klar als Warnung verstanden werden, dass Erdbebensicherheit, Schutzmaßnahmen und Übungen dringend notwendig sind.