Magnitude 7.8 im Grenzgebiet von Syrien und der Türkei. Verheerende Zerstörung über ein riesiges Gebiet. Eine Opferzahl, die minütlich steigt und vermutlich am Ende fünfstellig sein wird. Kaum abschätzbare soziale Folgen für die kriegsgebeutelten und wirtschaftlich extrem angeschlagenen Regionen. Das katastrophale Erdbeben der letzten Nacht, das wir hier weiter im Live-Ticker begleiten, sorgt weltweit für entsetzen. Um zu verstehen, warum es hier zu dieser Katastrophe kommt, müssen wir an dieser Stelle auf den tektonischen Rahmen und in die Geschichte blicken. Eine Geschichte, die düstere Aussichten für die Zukunft bereithält. 

Tektonischer Hintergrund und historische Erdbeben im Süden der Türkei und in Syrien. Stern: Epizentrum des aktuellen Erdbebens. Karte aus: https://agupubs.onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1029/2020GL088136 bearbeitet von https://twitter.com/faulty_data

Im Türkisch-Syrischen Grenzgebiet treffen drei Erdplatten aufeinander: Arabien drückt von Südosten, Afrika von Südwesten und Anatolien von Nordwesten. Im sogenannten Triple Junction zwischen Zypern, dem Libanon und dem Osten der Türkei liegen mehrere sehr große Störungszonen, an denen sich der Druck der Platten über Jahrhunderte aufbaut und in katastrophalen Erdbeben entlädt. Gerade die Region zwischen Aleppo und der historischen Stadt Antioch (heute: Antakya), Standort einer der frühesten Hochkulturen, verfügt über Jahrtausende an Aufzeichnungen katastrophaler Erdbeben mit hohen fünfstelligen bis siebenstelligen Opferzahlen.

Diese Plattengrenze manifestiert sich vor allem in Form der Ostanatolischen Störung (In der Karte EAF genannt). Diese verläuft vom äußersten Süden der Türkei bis weit in den Osten. Weiter südlich geht sie in die Totes-Meer-Störung (DSF) über. Das Gebiet vom Süden der Türkei bis nach Israel und Ägypten hat historisch extrem lange Aufzeichnungen, die teils bis in biblische Zeiten zurück reichen. Entsprechend hervorragend sind dort die Kenntnisse über historische Erdbeben.

Und wie schon zu biblischen Zeiten und auch in dieser mehrfach beschrieben, sind katastrophale Erdbeben in der Geschichte an der Tagesordnung gewesen. Die EAF und die DSF sind horizontale Verschiebungen, ähnlich der San Andreas Störung in Kalifornien, mit dem Potential von Erdbeben bis Magnitude 8. Diese treten, je nach Abschnitt, alle 500 bis 1000 Jahre auf. Je nach Region gibt es auch „nur“ Erdbeben bis Magnitude 7, diese sind dafür häufiger.

900 Jahre Spannung entladen

Der südlichste Abschnitt der EAF ist der, der aktuell betroffen ist. Vermutlich sind auch noch angrenzende Störungen involviert, was bei einer Magnitude mit annähernd 8 immer sehr wahrscheinlich ist. Der Bruch zieht sich etwa von der Provinz Malatya, wo es vor drei Jahren mit Magnitude 6.8 gebebt hat, bis fast ganz nach Süden. Vermutlich umfasste der Bruch das südlichste Segment nicht.

Auf der Karte sind auch historische Erdbeben eingetragen. Man sieht im südlichsten Segment zwei M~7.5 Erdbeben vor rund 200 Jahren sowie einiges an Aktivität Richtung Nordosten. Das letzte große Erdbeben am aktuell betroffenen Segment (oder zumindest in unmittelbarer Nähe, das exakte Epizentrum von historischen Beben ist natürlich nicht lokalisierbar, nur grob abschätzbar) liegt bereits 900 Jahre zurück. Im Jahr 1114 bebte es geschätzt mit Magnitude 7 bis 7.8. Da es aus der Zeit nur wenig Daten über Schäden und Todesopfer gab, ist die Schätzung ungenau.

Somit konnte sich in dem Gebiet über 900 Jahre Energie aufstauen, die sich nun in einem großen Erdbeben entladen hat. Und wie auch die meisten der historischen Erdbeben, sind die Auswirkungen katastrophal. Anders als in den nördlichen und westlichen Gebieten der Türkei ist die Bauweise im Süden noch überwiegend traditionell. In Syrien kommen die Auswirkungen des Krieges hinzu. Eine schwache Infrastruktur, ein extremes Erdbeben und ein Beben mitten in der Nacht sind ein tödlicher Cocktail.

Ein tödlicher Cocktail, der möglicherweise Nebenwirkungen hat. Syrien und der Süden Türkei haben auch deshalb eine berüchtigte Erdbebengeschichte, weil ein Erdbeben hier selten allein kommt.

Dazu ein kurzer Einschub: Durch den ruckartigen Versatz bei einem großen Erdbeben wird zwar einerseits viel Spannung entladen, aber andererseits auch an angrenzenden Störungszonen Druck aufgebaut. Dies erhöht in diesen Gebieten das Risiko weiterer Erdbeben.

Erdbeben in Syrien könnte Kettenreaktion starten

Gerade in Regionen wie diesen mit komplexer Tektonik, oft nicht klar definierten tektonischen Grenzen und mehreren Jahrhunderten an Inaktivität bietet sich das Potential für einen Dominoeffekt. So beobachtet mehrfach in historischer Zeit. Eine dieser Ketten baute sich im 6. Jahrhundert auf mit zahlreichen katastrophalen Erdbeben. Noch verheerender: Eine Serie aus mindestens 15 schweren Erdbeben Ende des 11. und Anfang des 12. Jahrhunderts. Eine Serie, zu der auch der Vorgänger des heutigen Bebens gehörte. Diese zeitliche Häufung von schweren Erdbeben in historischer Zeit wird gelegentlich als „Erdbebensturm“ bezeichnet.

Nun schreiben wir das Jahr 2023. Vor drei Jahren erschütterte ein Beben der Stärke 6.8 die Ostanatolische Störung bei Malatya. Nun folgte Magnitude 7.8 an einem südlicheren Abschnitt, möglicherweise sogar nicht am Hauptast. Der südlichste Abschnitt steht noch ungebrochen dar. Noch weiter im Süden wartet die Totes-Meer-Störung ebenfalls seit Jahrhunderten auf die nächste Erdbebenkatastrophe.

Schon in den letzten Wochen bebte in Syrien immer wieder die Erde. Viele kleine Beben bis Magnitude 4, entlang der Ostanatolischen Störung, aber auch weiter südlich, erschütterten die Städte im Westen und ließen die Anwohner eine kommende Katastrophe fürchten. Medien riefen die Gefahr in Erinnerung, dass ein katastrophales Erdbeben jederzeit kommen kann und die Geschichte zeigt, dass dieses (Persönliche Anmerkung: Ich hasse diesen Begriff im Zusammenhang mit Erdbeben und Vulkanen, weil er extrem irreführend ist. Aber hier verwende ich ihn trotzdem, weil er leider perfekt passt) ÜBERFÄLLIG ist.

Höchstes Risiko für Regionen im Süden

War. Wie wir heute wissen. Warnungen der Medien, die wohl nur wenige Menschenleben retten konnten. Ob die vielen Erdbeben der letzten Wochen tatsächlich Vorbeben waren, ist im Einzelfall schwer zu sagen. Die entlang der EAF: Sehr wahrscheinlich. Die weiter im Süden. Vielleicht Zufall. Vielleicht ein weiteres Warnzeichen.

Während in Malatya, Adana, Aleppo und Hama weiter Opfer aus den Trümmern gezogen werden, dauern die Nachbeben an. Nachbeben, die so stark werden könnten, dass weitere Gebäude einstürzen. Nachbeben, die Menschen, die sowieso schon in einer Katastrophe lebten, weiter leiden müssen. Und Nachbeben, die uns fürchten lassen müssen, dass dies nicht die letzte Katastrophe ist. An der Ostanatolischen Störung ist der Druck weitestgehend abgebaut. Für die Regionen weiter im Süden bedeutet dies höchste Alarmbereitschaft.

Die Geschichte zeigt uns, dass Katastrophen in Syrien nicht alleine kommen. Ein Initialzünder kann eine ganze Reihe schwerer Erdbeben in den nächsten Jahrzehnten triggern. Mit Magnitude 7.8 wurde die Zündschnur, die über Damaskus, den Libanon, Jordanien, Israel bis zum Toten Meer verläuft, entflammt. Wie lang sie ist und wie viele Bomben sie entzündet, zeigt die Zukunft.