Man kann sich mit (meist negativen) Superlativen kaum zurückhalten. Die Zerstörung, das Leid und den Tod, den die Erdbebenkatastrophe über die Türkei und Syrien gebracht hat, ist weitestgehend einzigartig in jüngster Vergangenheit. Die Schwere der Beben, die Umstände und die hohe Bevölkerungsdichte waren idealer Nährboden für eine extreme Katastrophe. Aber auch aus wissenschaftlicher Sicht gibt es viele Besonderheiten, die das Ereignis besonders machen. Besonders, auch im positiven Sinne. Womöglich wurde sogar ein Weltrekord eingestellt.

Bei mehr als 8000 Todesopfern, 36.000 Verletzten und den Bildern aus verwüsteten Städten von positiven Dingen zu reden, ist natürlich moralisch problematisch. Doch wie so oft sind es die Katastrophen, die langfristig dazu beitragen, die Zukunft zu verbessern. Aus wissenschaftlicher Sicht sind dies vor allem Daten. Daten, die am Ende des Tages dabei helfen könnten, kommenden Erdbeben ihr Zerstörungspotential zu nehmen.

So konnte man dank des relativ dichten seismologischen Netzwerks in der Türkei (Daten, die übrigens auch öffentlich zugänglich sind, siehe Anleitung) dem Erdbeben genau auf den Finger schauen und mehrere spannende Erkenntnisse sammeln:

  1. Die Zerstörungskraft

Was eigentlich schon durch die Bilder und Videos belegt ist, bestätigen auch Instrumente. Die Bodenbewegung bei dieser Erdbebensequenz war extrem. Entscheidende Messwerte, die Einfluss auf Zerstörung von Gebäuden haben, sind Bodenbeschleunigung (PGA) und Schwinggeschwindigkeit (PGV) in der Horizontalkomponente. Bei PGA wurden bis zu 1,5 g gemessen. Da Instrumente nicht überall stehen, dürfte der Wert mancherorts bei bis zu 2 g liegen. G, die Erdbeschleunigung, die bei fallenden Objekten deutlich wird, beträgt etwa 10 Meter pro Quadratsekunde.
PGV-Werte erreichten Werte von 2 Metern pro Sekunde, abseits der Stationen wohl ebenfalls deutlich höher.


Zum Vergleich: Die maximale (!) Beschleunigung eines kleineren PKW beträgt 2 bis 3 g. Das heißt, die Erschütterungen in der Türkei waren vergleichbar mit einer wilden Autofahrt: Mit Vollgas auf 8 km/h beschleunigen – Vollbremsung – Vollgas – Vollbremsung. Für ganze zwei Minuten. Ganz egal, wie gut ihr bei der Fahrt euren Kaffeebecher festhaltet: Danach braucht ihr ein frisches Hemd. Und einen Werkstattbesuch.

Auffällig auch: Die Maximalwerte wurden nicht unbedingt bei den Hauptbeben erreicht. An manchen Stationen stellten Nach- oder getriggerte Beben die Rekorde auf. Insgesamt fünf Beben trugen sich so in die Liste ein – angemerkt erneut: Nur an den Stationen! Es waren also nicht nur zwei Erdbeben, die Gebäude zerstörten, sondern mindestens (!) fünf.

2. Die Bruchlänge

Bei beiden Erdbeben handelte es sich um sogenannte Strike-Slip-Erdbeben. Diese entstehen, wenn zwei Platten oder Gesteinsblöcke sich horizontal gegeneinander verschieben. Prominentestes Beispiel ist die San Andreas Störung in Kalifornien. Aber auch in Deutschland gibt es diesen Störungstyp. So ist zum Beispiel der gesamte Oberrheingraben eigentlich kein Graben mehr, sondern ein Strike-Slip System. Auch die Albstadt-Scherzone, verantwortlich für die stärksten Erdbeben in Deutschlands jüngerer Geschichte, ist Strike-Slip.

Strike-Slip-Erdbeben haben zwar wegen der horizontalen Komponente die höchste Zerstörungskraft (siehe Punkt 1). Doch ist ihre Magnitude vergleichsweise begrenzt, da die Bruchlänge durch Eigenschaften der Störung relativ einfach begrenzt wird. Magnitude 6-7 ist meist das obere Limit, nur wenige Störungen an Land schaffen mehr. Eine davon ist die Ostanatolische Störung, die nun mit Magnitude 7.8 zwar keinen Magnitudenrekord aufgestellt hat (diesen hält ein Beben in China mit M8.0. Auch das San Francisco Erdbeben 1906 war mit M7.9 stärker). Aber die Bruchlänge dürfte weltweit einzigartig sein.

Über eine Strecke von rund 400 Kilometern wurden seit dem Hauptbeben Nachbeben registriert. Nachbeben treten in der Regel in unmittelbarer Nähe des Hauptbruchs auf. Dort, wo Restspannungen übrig blieben oder das Rutschen nicht vollständig erfolgte. Somit deutet dies auf einen Bruch mit einer Gesamtlänge von 400 Kilometern hin. Das entspricht der Distanz Berlin – Frankfurt (Main). Die Länge des Bruchs ist entscheidend für das Zerstörungspotential: Je länger der Bruch, umso größer das betroffene Gebiet. Auf Deutschland übertragen wären dies verwüstete Städte von der polnischen bis zur französischen Grenze.

3. Das Triggern

Dass ein großes Erdbeben andere große Erdbeben auslöst, ist kein neues Phänomen. Es kommt immer wieder vor, ist aber auch nicht die Regel. Verschiebt sich bei einem Erdbeben ein Gesteinsblock, erhöht er von jetzt auf gleich den Druck auf seinen Nachbarblock. War dieser bereits zuvor kritisch gespannt, könnte er diesem zusätzlichen Druck schnell nachgeben. Vor allem Strike-Slip-Erdbeben neigen wegen ihrer Brucheigenschaften dazu, auch über größere Distanzen zu triggern. Hier sind dann die horizontalen seismischen Wellen der Auslöser, die auf andere Strike-Slip-Störungen einwirken und dort den Druck erhöhen.

Mit dem initialen M7.8 wurde eine enorme Energiemenge frei, die nicht nur Gebäude sondern auch benachbarte Störungen an ihre Grenzen gebracht hat. Das Ergebnis sind Tausende Tote und ein M7.5 wenige Stunden später, das erneut Tausende Tote forderte. Und dieses Spiel ist womöglich noch nicht vorbei. In den 48 Stunden seit den Beben sahen wir viele Nachbeben an den beiden Hauptbrüchen, aber auch einiges an getriggerter Aktivität. So gab es einige moderate Erdbeben vor der syrischen Küste entlang der Zypern-Subduktionszone. Weiter Richtung Nordosten entlang der Ostanatolischen Störung kam es ebenfalls zu moderaten, teils starken Beben bis M5.5. Und im Süden reagierte die Totes Meer Störung in Palästina bereits mit einem M4.4, im Südosten Syriens mit M3.4. Kleinere Beben vor der Küste des Libanons deuten darauf hin, dass sich dort ebenfalls etwas tut.

Epizentren registrierter Erdbeben seit dem 6. Februar 2023. Rote Linien: Hauptbrüche der M7.8 und 7.5 Hauptbeben. Rote Kreise: Getriggerte Erdbeben an anderen Störungen oder Störungssegmenten. Blaue X: Falschdetektionen

Magnituden, die zunächst weitestgehend harmlos scheinen. Doch beim Triggern macht die Magnitude keinen Unterschied. Wird durch ein Beben ein Bruch an einer anderen Störung ausgelöst, ist es eine Frage des Zufalls*, ob dieser Bruch zu einem M3.4 oder einem M7.4 wird. Oder anders ausgedrückt: Dort, wo ein M3.4 getriggert wird, kann theoretisch auch ein M7.4 getriggert werden, wenn der Zufall* so will.

Für ein weites Gebiet zwischen der Iranischen Grenze und dem Toten Meer bedeutet das also: Höchste Vorsicht! Hier ist in den nächsten Tagen das Risiko weiter, möglicherweise schwerer Erdbeben extrem erhöht.

4. Die Lehren

Was insgesamt nach einer Beschreibung klingt, wie böse, wie schlimm und wie tödlich diese Erdbebensequenz war und wahrscheinlich immer noch ist, ist im Grunde auch: Eine Beschreibung, wie böse, wie schlimm und wie tödlich zukünftige Erdbebensequenzen sein werden. Wenn Menschen an einem Erdbeben sterben, sollte man trotz aller Tragik versuchen, daraus seine Lehren zu ziehen.

Das Verständnis, wie dieses Erdbeben gebrochen ist und wie es extreme Bodenbewegungen ausgelöst hat, kann auch auf andere Erdbeben übertragen werden. So warten mit Istanbul, Rangun und Los Angeles einige Millionenstädte auf sehr ähnliche Erdbeben in naher Zukunft. Diese können aus den Erfahrungen des aktuellen Bebens ihre Präventionsmaßnahmen anpassen.

Auch das Triggern von entfernten Beben kann besser verstanden werden. Es ist ein Feld der Erdbebenforschung, das noch viele offene Fragen beherbergt. Fragen, die man mit den Beobachtungen der aktuellen Sequenz vielleicht beantworten kann um möglicherweise in Zukunft das Triggerpotential großer Erdbeben berechnen, den Zufall* klarer definieren und ganz vielleicht sogar gezielt warnen zu können.

Die Bruchlänge gilt als entscheidender Faktor bei der Klassifikation von Erdbebenrisiken, da sie die Magnitude mitbestimmt. Nun wissen wir, dass die Bruchlänge an der Ostanatolischen Störung über mehrere Segmente reichte und alle Erwartungen übertroffen hat. Was sagt uns dies zum Beispiel über die bisher angenommene Segmentierung zum Beispiel der San Andreas Störung? Müssen wir hier jetzt auch die erwartete Maximalmagnitude nach oben korrigieren.

Während die Katastrophe in der Türkei und in Syrien noch ihr volles Ausmaß entfaltet, Millionen Menschen tot, verletzt oder traumatisiert sind, haben mit der Minute des Bebens die Forschungen begonnen, um Millionen anderen Menschen ein ähnliches Schicksal möglicherweise zu ersparen. Erdbeben sind nicht vermeidbar. Aber es liegt an uns, das beste aus dieser ständigen Bedrohung zu machen. Je mehr wir wissen, umso besser können wir unsere Bauwerke und damit unsere Leben schützen.

*Zufall in dem Sinne: Unberechenbarer und unmessbarer Einfluss von dutzenden geologischen Faktoren.