Warum waren die Erdbeben in der Türkei und in Syrien so katastrophal? In den vergangenen Tagen kam es in den beiden Ländern und auch international zu intensiven Diskussionen, was im Vorfeld der Katastrophe hätte besser gemacht werden müssen, um Menschenleben zu retten. Doch manche türkische Medien entscheiden sich für einen anderen Weg: Durch Zitate von Seismologen soll das Narrativ verbreitet werden, das Erdbeben sei zu groß für Vorbereitung gewesen. Behörden, Bauvorschriften und die Regierung seien somit komplett unverantwortlich für mindestens 35.000 Todesopfer. Wenn Wissenschaftler zu Propaganda-Objekten werden. 

Nach einem großen Erdbeben, das internationale Aufmerksamkeit erhält, ist es normal, dass Seismologen zu gefragten Interviewpartnern werden. Das Erklären der Ereignisse und geologischer Hintergründe, grobe Prognosen, was nun zu befürchten ist (Nachbeben) und manchmal auch die Frage, ob man nicht die ganze Türkei evakuieren müsste, um reißerische Headlines zu generieren (Hallo BILD! Ja, ich habe eure Mail bekommen.). In den meisten Fällen geht es dabei um Information, Aufklärung und generell seriösen Journalismus.

Die türkische Nachrichtenagentur Anadolu hat sich aber dazu entschieden, statt seriöser Aufklärung lieber nur die Botschaft zu verbreiten, die sie verbreiten möchte. In diesem Fall: Die Katastrophe war unvermeidbar, extrem und deutlich größer als im Vorfeld erwartet. Sprich: Vorwürfe an die türkische Regierung, die Versicherungsgelder abgezweigt, Bauvorschriften ignoriert und bei den Rettungsarbeiten unzureichend Mittel zur Verfügung gestellt hat, seien hinfällig. Schuld stattdessen: Niemand? Gott? Oder, wenn man einen Schritt weiter denkt: Wissenschaftler, die nicht ausreichend auf die Gefahr hingewiesen haben? Interpretationsspielraum…

„Eine unerwartete Jahrhundertkatastrophe“

Für dieses Narrativ hatte Anadolu in den vergangenen Tagen weltweit Seismologen und andere Erdbebenexperten interviewt. Auch bei „Erdbebennews“ ging eine entsprechende Anfrage ein. Der vereinbarte Gesprächstermin wurde allerdings nicht eingehalten. Dabei wurden offenbar auch Fragen gestellt, die gezielt in eine entsprechende Richtung leiten sollten, um bestimmte Aussagen zu bekommen. Und genau diese Aussagen haben sie von vielen nichtsahnenden Seismologen auch bekommen.

Das Ergebnis war eine Artikel- und Videoserie, in der ausländische Erdbebenforscher die Katastrophe einordnen. Zwar wurden von Seiten der Experten natürlich auch korrekte und vor allem einordnende Aussagen getätigt. Doch waren es die gewollten Zitate, die kontextlos prominent platziert und auch ohne Einordnung über Soziale Netzwerke verbreitet wurden. Bei der Flut an Medienartikeln zur Türkei-Katastrophe ein wirksamer Schritt, da der Anteil an Nutzern, die tatsächlich den gesamten Artikel lesen, verschwindend gering sein dürfte. Somit wurde das Narrativ, das Regierung und Behörden vermeintlich entlastet, in die Welt hinaus getragen.

Dass Anadolu bei der Aufbereitung der Katastrophe tendenziös bis propagandistisch agiert, zeigt sich auch in anderen Artikeln. So wurde einerseits behauptet, entlang der aktiven Störung sei jedes Haus zerstört worden. Andererseits wird aber auch darauf hingewiesen, dass trotz der vermeintlich unerwarteten Jahrhundertkatastrophe die Gebäude der staatlichen Bauagentur das Beben weitestgehend überstanden haben. Ein Kontrast zur vermeintlichen Hilfslosigkeit und totalen Zerstörung.

Kommentar: Mediales und staatliches Menschenopfer

Wenn 35.000 Menschen bei einem Erdbeben durch einstürzende Gebäude sterben, ist dies nicht normal! Egal, wie stark das Erdbeben ist. Es mag im antiken Antioch normal gewesen sein. Doch leben wir in einer Zeit, wo Architekten und Bauingenieure mehr können, als mit Kohle auf Pergament zeichnen. Gebäude, gerade in Gebieten mit langer Geschichte von Erdbebenkatastrophen, sollten entsprechend der Gefahr angepasst werden. Die technischen Voraussetzungen für diesen Schritt sind gegeben.

Auch die Größe des Erdbebens ist in diesem Fall kaum entscheidend. Historische Erdbeben bis Magnitude 7.5 sind bekannt. Bei der Größenordnung macht es für die Zerstörungskraft keinen großen Unterschied mehr, ob es 0.3 Magnitude mehr oder weniger sind. Der Unterschied ist dabei mehr die Größe des betroffenen Gebietes als die tatsächliche Stärke der Erschütterungen. Somit ist die Behauptung, Magnitude 7.8 habe es noch nie gegeben, ob war oder nicht, keine Ausrede. Vor allem, da es in anderen Teilen der Türkei Magnitude 7.8 durchaus schon gegeben hat und dies auch niemand für die Ostanatolische Störung ausgeschlossen hat.

Erdbebensichere Bauweise liegt im Verantwortungsbereich der Behörden. Zwar haben Behörden  Bauunternehmer verhaftet, die bewusst gegen Bauvorschriften verstoßen haben. Doch ist es Aufgabe der Regierung, solche Verstöße vor einer Katastrophe zu erkennen und streng zu ahnden. Ebenso ist es Aufgabe, die Bevölkerung über die drohende Gefahr aufzuklären. Wer wegschaut, darf sich am Ende nicht beschweren. Und wer dann noch, statt sich der Verantwortung zu stellen, über Medien und kontextlose Zitate von Experten versucht, diese Verantwortung zu vertuschen, hat sich für Regierungsaufgaben disqualifiziert.

Wer hilflos ist, hat auch nichts zu verlieren

Der Schaden, der durch solche Narrative entsteht, beschränkt sich nicht nur auf die Region und den Wiederaufbau. „Wieso sollten wir denn jetzt noch in erdbebensichere Gebäude investieren, wenn wir uns doch sowieso nicht schützen können?“ Wut, Trauer und Angst der Betroffenen wird sich im schlimmsten Fall gegen die richten, die am wenigsten dafür können: Die Wissenschaftler, die vermeintlich nicht in der Lage sind, eine solche Katastrophe kommen zu sehen. Es liegt in der Natur der Menschen, einen Sündenbock zu suchen. Unruhen, Proteste und Angriffe sind hier wie in anderen Katastrophengebieten die Folge.

Wissenschaftliche Grundlagenarbeit ist essentiell, um Bauvorschriften, Risikobewertungen und Risikokommunikation zu initiieren. Geht das Vertrauen in diese Grundlagen verloren, wird auch das potentielle Risiko weiter ignoriert werden. Weiterleben und Gefahren ausblenden, in der Hoffnung, dass die eigene Generation verschont bleibt. Oder: Jede zehnte Generation opfern, um sich das bequeme Narrativ der sicheren Hilflosigkeit zu erhalten.

Eine gewisse Hilflosigkeit gib es bei großen Erdbeben zwar immer. Selbst in Regionen mit bester Bauweise und Vorbereitung würden bei einem solchen Erdbeben Häuser einstürzen und Menschen sterben. Die Faktoren „Glück“ und „Pech“ gibt es immer. Doch ist das Ausmaß entscheidend, auch bei der Bewältigung der Katastrophe. Opferversorgung, Wiederaufbau und Rückkehr zur Normalität sind einfacher, wenn statt 5 Millionen „nur“ 50.000 Menschen betroffen sind und statt 50.000 „nur“ 500 Menschen sterben. Katastrophen im Rahmen halten. So viele wie möglich retten. Und die Katastrophe nach der Katastrophe verhindern. „Glück“ wahrscheinlicher machen.

Solange Erdbeben nicht vorhersehbar sind, und dies wird wahrscheinlich niemals der Fall sein, ist Vorbereitung der einzige Schutz. Kein perfekter Schutz, aber im besten Fall so gut, dass 99% der Menschen überleben. Ein Anteil, für den sich jede Investition lohnt. Sowohl für Bauunternehmer, als auch (vor allem) für die Regierung, die sich der Verantwortung für diese 99% bewusst sein muss! Wissenschaftler können im Normalfall keine Menschen retten. Aber sie können sagen, wie man es macht. So wie sie die Verantwortung für klare Kommunikation tragen, haben Medien die Aufgabe, die wichtigsten Aussagen weiterzutragen. Man muss ihnen nur zuhören und diese wichtigen Aussagen hervorheben statt denen, die zur eigenen Propaganda passen. Wer dies ablehnt, macht sich selbst für die Katastrophe verantwortlich.

One thought on “Wie Seismologen zu Propaganda-Objekten werden

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