Vor der Küste der griechischen Vulkaninsel Santorini bebt seit einer Woche die Erde. Ein Erdbebenschwarm extremen Ausmaßes hat seit Anfang Februar tausende Inselbewohner und Touristen zur Flucht getrieben und Sorge vor einem großen Erdbeben oder einem Vulkanausbruch geschürt. Erdbebennews hat dieses Thema bereits aufgegriffen. Tatsächlich sind die Erdbeben so häufig, dass Behörden schon garnicht mehr in der Lage sind, mit konventionellen Methoden alle Erdbeben zu registrieren. Daher versuchen wir nun eine Abschätzung, um die Gesamtzahl der Erdbeben genauer zu bestimmen und die Dimensionen dieser Situation besser zu erfassen. 

Hunderte Erdbeben. Tausende Erdbeben. Mehr als 2000. Wer die Medienberichte zu Santorin liest, wird mit verschiedenen Zahlen zu den Ausmaßen des Erdbebenschwarms konfrontiert, die teils widersprüchlich sind und mangels sachlicher Einordnung im Grunde nur sinnfreie Aneinanderreihung von Ziffern bilden. Denn oft fehlt die Angabe, ab welcher Magnitude denn überhaupt gezählt wird.

Seismologische Aufzeichnungen der GEOFON-Station THERA auf Santorin vom 6. Februar 2025. Jeder kleine und große Ausschlag ist ein Erdbeben. Viel Spaß beim Zählen.

Während einer Erdbebensequenz, sei es ein Schwarm oder eine Nachbebenserie, gilt oft, dass die Anzahl der Erdbeben exponentiell mit abnehmender Magnitude zunimmt. Dies wird als Gutenberg-Richter-Gesetz bezeichnet. Im Normalfall liegt zwischen der Anzahl von zwei Erdbeben mit einer Magnitude Unterschied ein Faktor von 10. Heißt: Gibt es während einer räumlich und zeitlich festgelegten Erdbebensequenz fünf Erdbeben über Magnitude 5, kommt es auch zu 50 Erdbeben über Magnitude 4, zu 500 über Magnitude 3, und so weiter. Diese Rechnung lässt sich theoretisch bis in den negativen Magnitudenbereich fortsetzen.

Konventionelle Erdbebenauswertung stößt an ihre Grenzen

Dies sind aber meist nur theoretische Werte. Was tatsächlich aufgezeichnet werden kann, hängt davon ab, wie gut die seismische Überwachung in der Nähe des Epizentrums ist. Je mehr Stationen zu hast, umso mehr Erdbeben und umso kleinere Erdbeben kannst du theoretisch instrumentell erfassen. Im Vogtland zum Beispiel, Deutschlands bestüberwachter Erdbebenregion, können problemlos Erdbeben bis Magnitude -1 registriert werden.

Bei extrem großen und intensiven Erdbebenfolgen kommen aber neben der technischen Limitierung noch zwei weitere Beschränkungen hinzu:
1. Wie dicht gedrängt sind die Erdbeben und überlagern sie sich so stark, dass eine Auswertung erschwert wird?
2. Wie viel schafft ein Mensch? (Oder die entsprechende Anzahl an Menschen, die für die Auswertung zuständig ist)

All dies berücksichtigend ergibt sich die konventionelle Methode, nach der Erdbebendienste arbeiten. Das Resultat dieser manuellen Erdbebenauswertung ist meist das, was es in den Medien zu lesen gibt. Wie stark die zuvor genannten Beschränkungen wirken und das Ergebnis beeinflussen, wird jedoch nicht vermittelt. Da es sich bei Santorin um einen wirklich extremen Erdbebenschwarm handelt, kann man von einer sehr starken Beeinflussung ausgehen. Dies lässt sich auch präzisieren, indem man berechnet, ab welcher Magnitude die Auswertungen vollständig sind. Im Falle des Santorin-Schwarms beträgt die Vollständigkeitsmagnitude der manuellen Auswertungen (Universität Athen) Magnitude 4.1. Das heißt: Wir können mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass alle Erdbeben ab Magnitude 4.1 auch manuell ausgewertet wurden. Unterhalb von Magnitude 4.1 gibt es aber noch Lücken. Je weiter drunter, umso größer die Lücken.

Viele Erdbeben werden durch andere Erdbeben verdeckt

Zur Einordnung: Erdbeben mit Magnitude 4.0 sind auf Santorin und Nachbarinseln bereits deutlich spürbar. Die Schwelle, ab der Anwohner umliegender Inseln die aktuellen Erdbeben wahrnehmen können, liegt je nach Insel und Epizentrum bei etwa Magnitude 2.5.

Automatisch detektierte Erdbeben mit ermittelter Magnitude bei Santorin (Daten und Grafik: Erdbebennews). Der Datensatz hat eine errechnete Vollständigkeit ab Magnitude 3.4 aufwärts. Automatische Magnitudenberechnungen können von manuellen Auswertungen leicht abweichen.

Das EMSC, das manuelle (teils aber auch automatische) Auswertungen mehrerer Institute aus Griechenland und der Türkei kombiniert, hat in seinem Katalog seit dem 1. Februar insgesamt knapp 1041 Erdbeben über Magnitude 2.5 (wobei sich diese Zahl zwischen dem Schreiben umd dem Lesen verändert haben dürfte). Erdbebennews hat sich die Daten nochmal angeschaut und über analytische Methoden weitere Erdbeben gesucht. Diese softwarebasierte Methode unterliegt nicht den Beschränkungen der menschlichen Leistungsfähigkeit, hat aber andere (hier nicht relevante) Nachteile. Dabei konnten wir im gleichen Zeitraum knapp 3000 Erdbeben über Magnitude 2.5 finden. Aber auch für die Software gilt: Liegen die Erdbeben zu dicht beieinander und verdecken sich gegenseitig, sind sie nicht mehr auffindbar.

Bis zu 9000 spürbare Erdbeben in einer Woche

Der automatisch ermittelte Erdbebennews-Katalog erreicht dadurch auch nur eine Vollständigkeitsmagnitude von 3.4. Insgesamt konnten knapp 5900 Erdbeben seit dem 1. Februar gefunden werden. Das heißt: Viele für Inselbewohner spürbare Erdbeben, sind auch mit dieser Detektionsmethode nicht auffindbar, korrekte Aussagen, wie viele Erdbeben verspürt wurden somit nicht möglich. Um dies abzuschätzen muss man nun auf die Statistik zurückgreifen und das Gutenberg-Richter Gesetz anwenden.

Anhand der Bebenanzahl oberhalb der Vollständigkeitsmagnitude lässt sich der Faktor bestimmen, mit der die Erdbebenhäufigkeit bei abnehmender Magnitude zunimmt. Dies ist, basierend auf dem Erdbebennews-Katalog, der Faktor 1,34. Höher als der Durchschnittsswert, aber für magmatisch getriebene Erdbebensequenzen nicht unüblich. Wenden wir dies nun auf den Katalog an, kommen wir auf folgende magnitudenabhängige Erdbebenanzahlen, die theoretisch seit dem 1. Februar bei Santorin aufgetreten sein müssten:

Magnitude >= 0 (Detektionsschwelle in gut überwachten Gebieten): Ca. 19.5 Millionen
Magnitude >= 1.5 (unterste Meldeschwelle für deutsche Erdbebendienste bei Lokalbeben): Ca. 190.000
Magnitude >=2.5 (Spürbarkeitsschwelle Santorin und Nachbarinseln): Ca. 9000
Magnitude >= 4 (Spürbarkeitsschwelle Nordküste Kreta): Ca. 85 (Real: EMSC-Katalog: 120, Erdbebennews-Katalog: 89, Unterschiede durch verschiedene Auswertemethoden)

Manuelle Erdbebenauswertung würde Millionen kosten

Etwa 9000 mal wurde also seit dem 1. Februar auf Santorin ein Erdbeben verspürt. Das entspricht etwa einem spürbaren Erdbeben pro Minute. 85 mal könnte man in exponierten Lagen an der Nordküste Kretas etwas bemerkt haben. Und würde der Erdbebenschwarm in Deutschland stattfinden, hätte (je nach Bundesland) der zuständige Erdbebendienst bis zu 190.000 mal eine offizielle Meldung an das jeweilige Landesamt verschicken müssen. Allein das hätte alle menschlichen Kapazitäten pulverisiert. Von der manuellen Auswertung, bei der man etwa fünf Minuten pro Beben veranschlagen muss (entspricht insgesamt ca. 108 Jahre Arbeit und bei Mindestlohn 12,1 Millionen Euro Gehaltskosten), ganz zu schweigen.

Stündliche Energiefreisetzung des Santorin-Schwarms basierend auf automatischen Erdbebennews-Detektionen. Die Gesamtenergie aller detektierten Beben entspricht der eines einzigen Bebens mit Magnitude 6.3.

Mit einem solchen vollständigeren, wenn auch nur theoretischen, Erdbebenkatalog, lässt sich auch die Energie abschätzen, die durch den Erdbebenschwarm bereits freigesetzt wurde. Dies entspricht umgerechnet auf Erdbeben etwa einer Magnitude von 6.3. Statt der vielen Millionen kleinen Erdbeben hätte also auch ein einziges Erdbeben der Magnitude 6.3 gereicht, um die gleiche Menge an tektonischer Spannung abzubauen. Auffällig übrigens: Die stündliche Energiefreisetzung blieb seit dem 2. Februar, dem Beginn der Extremphase, weitestgehend konstant. Der Erdbebenschwarm und das, was ihn antreibt, schritt in dieser Zeit also relativ gleichmäßig voran.

Rechenspiele, die für Menschen und Behörden auf Santorin natürlich irrelevant sind. Jedoch helfen sie Außenstehenden, die genauen Dimensionen dieses (ich kann es nicht oft genug sagen) extremen Erdbebenschwarmes besser zu begreifen und damit auch dessen Einfluss auf das Leben der Menschen vor Ort.