Erdbeben (M6.2) nahe Istanbul: Steht das große Beben bevor?
Ein starkes Erdbeben mit Magnitude 6.2 hat am heutigen Mittwoch (23. April) die türkische Millionenstadt Istanbul getroffen. Das Beben ereignete sich 60 Kilometer südwestlich des Stadtzentrums im Marmarameer und führte zu Schäden, Verletzten und großer Sorge in der Bevölkerung. Viele Menschen fragen sich nun, ob dieses Beben ein Vorzeichen für das seit vielen Jahren befürchtete große Erdbeben ist.
20.000 Todesopfer, Hunderttausende Obdachlose und eine zerstörte Metropole – dieses erschreckende Szenario wird seit Jahrzehnten für das erwartete Mega-Erdbeben in Istanbul gezeichnet. Diese Befürchtungen basieren auf realen Risiken: Viele Gebäude der historisch gewachsenen Stadt sind alt, baufällig und kaum erdbebensicher. Erdbebensicherheit existiert oft nur bei neueren Bauten. Dabei tickt am Rand der Stadt die Erdbebenuhr.

Vor der Südküste Istanbuls verläuft die Nordanatolische Störung – die tektonische Grenze zwischen Anatolien und Eurasien. Durch die Bewegung der Kontinentalplatten baut sich hier Spannung auf, die in historischer Zeit mehr oder weniger regelmäßig in Form großer Erdbeben abgebaut wurde. Das historische Konstantinopel lag mehrfach in Trümmern. Diese geschichtlichen Aufzeichnungen und moderne Messungen deuten darauf hin, dass das nächste große Beben mit hoher Wahrscheinlichkeit noch in diesem Jahrhundert eintreten wird. Eine Situation vergleichbar mit einer geladenen Waffe.
Tektonische Gefahr: Nordanatolische Störung
Dabei ist auch ungefähr abschätzbar, wie stark das nächste große Erdbeben sein wird. Magnitude 7.2 bis 7.5 wird es haben, stark genug, um auch in der Gegenwart große Zerstörungen anzurichten. Zwar lässt sich ein Erdbeben nicht exakt vorhersagen, doch die Wahrscheinlichkeit eines großen Bebens hat sich durch das heutige Ereignis deutlich erhöht. Das aktuelle Erdbeben könnte daher tatsächlich ein Vorbeben gewesen sein – eine Möglichkeit, aber keine Gewissheit.
Sowohl das heutige als auch das erwartete große Beben befinden sich auf dem gleichen Abschnitt der Nordanatolischen Störung, zwischen Marmara und Gebze. Seit dem letzten großen Erdbeben 1766 baut sich hier auf einer Länge von 150 Kilometern kontinuierlich Spannung auf. Mit rund 25 Millimetern pro Jahr verschieben sich Anatolien und Eurasien gegeneinander. Sechseinhalb Meter Bewegung hätten also erfolgen müssen. Ein Defizit, das tektonisch in Form eines großen Erdbebens aufgeholt werden muss.
Heute, mit dem Erdbeben der Magnitude 6.2, wurden etwa 20 Zentimeter der insgesamt sechseinhalb Meter Defizit auf etwa 10 Kilometer Länge abgebaut. Dadurch erhöhte sich der Druck auf die verbleibenden 140 Kilometer der Störungszone erheblich – bildlich gesprochen hat sich die Erdbebenuhr um acht Jahre beschleunigt.
Droht nun unmittelbar das große Beben?
Zudem führt ein Erdbeben dieser Stärke nicht nur zu langfristig erhöhtem Druck. Die Erdbebenwellen, die Erschütterungen selbst können auf die verhakte Störungszone Einfluss nehmen und im schlimmsten Fall die Verhakung lösen. Jedes weitere Nachbeben rüttelt bildlich am Abzug der geladenen Waffe.

Die entscheidende Frage ist, ob die zusätzlichen Spannungen und Nachbeben ausreichen, um das erwartete Mega-Erdbeben auszulösen. Diese Frage kann niemand sicher beantworten. Für Istanbul bedeutet das aktuell höchste Alarmbereitschaft: Gebäude werden vorsorglich evakuiert, viele Einwohner verbringen die Nacht im Freien. Das bietet auch einen Vorteil: Sollte das große Beben nun kommen, könnten die Opferzahlen geringer ausfallen als bei einem überraschenden Ereignis mitten in der Nacht. Das große Istanbul-Erdbeben würde, wenn es in den kommenden Stunden stattfände, deutlich weniger Menschenleben kosten.
Ein großes Erdbeben ist langfristig unvermeidbar, doch es könnte ebenso gut noch Jahre oder Jahrzehnte dauern. Möglicherweise beruhigt sich die Lage in den kommenden Wochen wieder und Istanbul kehrt zur Normalität zurück. Sicher ist jedoch, dass die Wahrscheinlichkeit für ein großes Erdbeben nach dem heutigen Ereignis so hoch ist wie seit Jahrhunderten nicht mehr. Und die Erdbebenuhr im Marmarameer tickt weiter.