Wenn man seit inzwischen mehr als 10 Jahren permanent die Erdbebenaktivität weltweit verfolgt und sich auch mit historischer und Paläoseismizität beschäftigt, hat man schon ziemlich viel gesehen. Kleine Beben, große Beben. Erdbeben an sehr ungewöhnlichen Orten und Erdbeben, die inzwischen so alltäglich wie langweilig sind. Doch als ich am 18. Oktober 2024 die E-Mail von meinem Kollegen gesehen habe, war mein erster Gedanke: „Verarsch mich nicht, ich hab Urlaub!“. Doch es war ernst gemeint.
Dies ist die persönliche Geschichte, wie ich das ungewöhnlichste Erdbeben in Deutschland seit Jahrzehnten erlebte. Wie ich wegen des Erdbebens auf einem Powerwolf-Konzert Interviews gab, über Nacht am Kölner Hauptbahnhof strandete und von einem Schlossherrn zum Tee eingeladen wurde.
Hinweis vorab: Dieser Erlebnisbericht enthält persönliche Wahrnehmungen und Einschätzungen, die natürlich subjektiv sind. Daten und Hintergrundinfos sind im Text klar als solche erkennbar.
Es ist der 18. Oktober 2024. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich bereits seit sieben Monaten an der Universität Jena. Meine Hauptaufgabe: Für das Thüringer Seismologische Netz und den Seismoverbund Mitteldeutschland Erdbeben auswerten. Im letzten halben Jahr hatte ich sehr stressige Zeiten. Ein sehr lang anhaltender Erdbebenschwarm im sächsischen Klingenthal, gleich zu Beginn meiner Tätigkeit, war genau das Gegenteil eines langsamen Einstiegs in den neuen Job. Umso mehr freute ich mich auf dieses verlängerte Wochenende in NRW, zurück in der alten Heimat. Es war überhaupt erst das erste Mal, dass ich wieder aus Thüringen rauskam. Meinen Laptop ließ ich für den zusätzlichen Erholungsfaktor zuhause.
Bereits am Vortag war ich angereist und hatte eine Nacht in einem äußerst unbequemen Bett einer Ferienwohnung in Oberhausen verbracht. Von Schlafen konnte nicht die Rede sein. Ein erholsamer Kurzurlaub beginnt anders, aber ein solcher sollte es auch nie werden. Gegen Mittag machte ich mich auf den Weg zum Essener Hauptbahnhof. Dort wollte ich Stefan treffen – ihr kennt ihn vielleicht aus den Erdbebennews-YouTube-Videos. Für den Abend war ein gemeinsamer Konzertbesuch geplant. Als ich auf seinem Gleis ankam und auf den verspäteten RE1 wartete, checkte ich noch einmal meine Mails und bemerkte eine Nachricht vom Kollegen aus dem Moxa-Observatorium.
Betreff: „Größeres Erdbeben nördlich von Leipzig“
Hallo Jens, für dich zur Info, falls es im Urlaub langweilig wird.
Dazu die Daten der automatischen Lokalisierungen: Magnitude 3.1 nahe Herzberg, Brandenburg.
Brandenburg. BRANDENBURG???
Magnitude: 3.3
Tiefe: nicht ortbar – beste Schätzung: 11 km
Epizentrum: 51.682 N, 13.398 O (Schlieben, Landkreis Elbe-Elster)
Daten: Thüringer Seismologisches Netz
Dies sind Daten der späteren manuellen Auswertung.
Als Stefan wenige Minuten später aus dem Zug stieg und meinen Gesichtsausdruck sah, während ich auf mein Smartphone schaute, war sein erster Kommentar: „Wo?“

Telefon, Presse, und viele offene Fragen
In den folgenden Stunden verbrachte ich viel Zeit mit Telefonieren. Zwar konnte ich mangels Laptop (und generell Gelegenheit) nichts zu diesem Beben hier auf Erdbebennews veröffentlichen. Doch da es in Brandenburg keine offizielle Anlaufstelle beim Thema Erdbeben gibt und da ich erst vier Wochen zuvor über ein sehr kleines (M 0.9) – aber für die Region schon ungewöhnliches – Erdbeben bei Herzberg schrieb, landeten dennoch viele Pressevertreter und auch Privatpersonen zunächst bei mir.
Auch Gespräche mit den TSN-Kollegen standen an. Zwar liegt Brandenburg nicht in Thüringen. Dank des Seismoverbunds Mitteldeutschland und der Nähe zu Sachsen und Sachsen-Anhalt fiel dieses Erdbeben aber dennoch in unseren Interessenbereich. So erfuhr ich, dass es anfangs einige Schwierigkeiten bei der Ortung des Bebens gab. Hauptgrund: In Brandenburg und angrenzenden Teilen Sachsens und Sachsen-Anhalts gibt es nur sehr wenige seismologische Messstationen. Die nächstgelegene ist rund 50 Kilometer entfernt. Damit entsteht nicht nur eine relativ große Unsicherheit bei der Bestimmung des Epizentrums. Die Bestimmung der Herdtiefe – essentiell, um den tektonischen Auslöser des Bebens zu ermitteln – war nicht möglich.
Anders als die Region zwischen Leipzig und dem Vogtland gehört Brandenburg nicht zu den Gebieten, in denen regelmäßig Erdbeben auftreten. Im Gegenteil: In den letzten 100 Jahren instrumenteller seismologischer Aufzeichnungen gab es vor dem 18. Oktober 2024 lediglich vier Erdbeben auf dem Landesgebiet von Brandenburg:
29. Juni 1920: Kolkwitz, Spree-Neiße-Kreis, Magnitude 2.9, Intensität IV
15. September 1984: Wahrenbrück, Kreis Elbe-Elster, Magnitude 1.4, Intensität 0
7. Oktober 2017: Finsterwalde, Kreis Elbe-Elster, Magnitude 1.1, Intensität 0
17. September 2024: Herzberg (Elster), Kreis Elbe-Elster, Magnitude 0.9, Intensität 0
Hinzu kommen zwei historisch überlieferte spürbare Erdbeben aus den Jahren 1483 und 1736, wobei vor allem ersteres aufgrund der Quellenlage als sehr fragwürdig eingestuft wird. Das letzte spürbare Erdbeben mit Epizentrum in Brandenburg liegt somit bereits mehr als 100 Jahre zurück.
Über Erdbebennews gingen in diesen Stunden einige Wahrnehmungsmeldungen ein, die belegten, dass dieses Erdbeben klar und deutlich und recht weitreichend verspürt wurde. Teils kam es noch in 30 Kilometern Entfernung zum Epizentrum zu spürbaren Erschütterungen. Näher am Epizentrum, so berichten es einige Menschen, war der Schock sehr groß – so etwas haben die Menschen dort noch nie erlebt – und auch der Schaden gering: Es gab mancherorts sogar Risse im Verputz älterer Häuser.
Für mich war schnell klar, dass dies ein historisches Ereignis ist: Das erste Beben seit einem Jahrhundert, das in Brandenburg verspürt wurde – vielleicht das stärkste seit Menschengedenken dort. Auf japanische oder kalifornische Standards hochskaliert – bildhaft gesprochen –: Das Erdbeben am 18. Oktober 2024 wäre das brandenburgische Äquivalent zu Tohoku 2011 oder San Francisco 1906.
Vom Konzert ins Krisen-Mindset
So erzählte ich es auch den Journalisten, die mich an diesem Nachmittag und Abend anriefen, verwies auf meine Kollegen im Büro in Jena und darauf, dass wir zu den Hintergründen des Bebens eigentlich auch nur spekulieren können. Denn wir haben so etwas noch nie gesehen. Damit war klar: Der Urlaub ist Geschichte. Als mich abends auf dem Powerwolf-Konzert ein lokaler Radiosender für ein Interview anfragte, ich wegen der Hintergrundgeräusche aber auf den Folgetag vertröstete, war klar: Zug nach Hause buchen. Zu groß die innere Unruhe und vor allem auch die Neugier. Denn ich wollte natürlich auch wissen, was hier passierte. Und ehrlicherweise konnte ich auf jede weitere Nacht in dieser Ferienwohnung gerne verzichten.
Es kam also der nächste Tag. Samstag. Auf dem ursprünglichen Plan stand abends noch eine Grillparty mit mehreren Freunden in Aachen. Im Anschluss dann die vorzeitige Rückfahrt nach Jena. Nachts. Nach zwei hektischen Tagen, zwei sehr schlafarmen Nächten und immer noch vielen drängenden Fragen im Kopf. Wusste ich, dass die vorzeitige Rückfahrt eine sehr dumme Idee war? Ja. Hätte ich damit rechnen können, die Nacht am Kölner Hauptbahnhof verbringen zu müssen, weil es nachts bei der Deutschen Bahn keine alternativen Optionen gibt? Ja.
Ich kam sechs Stunden später als geplant in Jena an, es war bereits früher Sonntagvormittag. Mehr als ein paar Mails checken und den halben Tag schlafen war nicht mehr drin.
„Was machen wir jetzt?“
Der Montag kam. Eigentlich noch ein Urlaubstag, ich war der erste im Büro. Es standen viele Gespräche mit den Kollegen an und allen voran die drängende Frage: Was machen wir? Zwar ist Brandenburg kein Zuständigkeitsbereich des TSN. Da aber die eine Person, die in Brandenburg offizieller Ansprechpartner für Erdbeben ist, bei einem Anruf nicht mal von dieser Rolle wusste, war klar: Wir nehmen es als Universität Jena in die Hand. Temporäre mobile Stationen aufbauen, Nachbeben messen – und zwar schnell.
Mangels vorhandener seismologischer Stationen rund um das Epizentrum in Schlieben war es nicht möglich, irgendwelche tektonischen Hintergründe dieses Bebens zu ermitteln. Nicht einmal die Tiefe war genau ortbar. Da es zuvor noch keine Erdbeben in der Region gab, war bisher kein Bedarf für eine seismologische Überwachung da. Doch braucht es eine seismologische Überwachung, um überhaupt zu wissen, dass es (kleine) Erdbeben gibt. Somit wäre es auch nicht möglich gewesen, mögliche Nachbeben zu detektieren.Grundsätzlich haben fast alle Erdbeben kleinere Nachbeben. Diese sind in der Spitze meist ein bis zwei Größenordnungen kleiner als die Hauptbeben. Bei Hauptmagnitude 3.3 bedeutet dies: Wir rechnen mit Nachbeben bis etwa Magnitude 2.0. Dabei können Nachbeben aus seismologischer Sicht so etwas wie kleinere Kopien des Hauptbebens sein. Oft entstehen sie an nahezu der gleichen Stelle in der Erdkruste, weisen den gleichen Verschiebungsmechanismus auf und sind generell in vielen Aspekten sehr ähnlich.
Eine präzise Messung der Nachbeben kann also Fragen über das Hauptbeben beantworten. Allen voran: An was für einer tektonischen Störung trat dieses Erdbeben auf? Dieses Wissen kann auch langfristige Antworten über das generelle Erdbebenrisiko in der Region liefern.
Der Dienstag war für mich wieder ein Telefoniertag. Ziel: Im Landkreis Elbe-Elster geeignete Standorte für seismologische Stationen finden. Bedingung: Stromanschluss und ein möglichst ruhiger Standort. Schwierig in einer Region mit vielen rauschintensiven Windkraftanlagen. Vor den Telefonaten war ich unsicher. Wie würden die Menschen dort reagieren, wenn ich frage, ob wir mal eben morgen vorbeikommen können und im Hinterhof eine Messstation aufbauen können? Intuitiv eigentlich nichts, was sich spontan regeln lässt.
Doch die Überraschung über das Erdbeben wenige Tage zuvor war sehr groß und die Neugier – und damit die Bereitschaft zur Unterstützung der Antwortfindung – extrem. So ziemlich jeder war begeistert, dass jemand versucht, eine Erklärung zu liefern. Grundstückseigentümer und Gemeinden zögerten keine Sekunde. Innerhalb eines halben Tages waren für alle vier verfügbaren Messgeräte potenzielle Standorte gefunden. Noch mehr wären möglich gewesen, wenn es nicht so spontan gewesen wäre. Damit war das erste (wenn auch nur temporäre) seismologische Überwachungsnetz in Brandenburg bereit. Es musste nur noch installiert werden.
Vier Stationen, viele Gespräche
Dies geschah am Mittwoch. Mit dem Kollegen, der sich um die Technik kümmert, fuhr ich raus zu den Orten, die zuvor ausgesucht wurden. Es folgten Termine im Schulmuseum Schwarzenburg, in der KZ-Gedenkstätte Schlieben, im Weinbauverein Schlieben und im Schloss Stechau. Ein Reiseplan, der dem Beben in seiner Einzigartigkeit in nichts nachstand. Während des Aufbaus der Geräte hatten wir die Gelegenheit für Gespräche über das Erdbeben, unsere Pläne und unsere Arbeit. Warum sich die Universität Jena für das Erdbeben in Brandenburg interessiere? Weil ihr es auch tut.

Es waren spannende Schilderungen des Bebens. Der Eindruck, dass dieses Erdbeben großes Interesse am Thema Seismologie weckte, bestätigte sich. Für die meisten Gesprächspartner war es das erste Erdbeben. Niemand wusste, dass in Schlieben solche Erdbeben möglich sind. Auch für uns war es überraschend, wie stark dieses Erdbeben von den Leuten verspürt wurde. Einige fühlten sich an DDR-Zeiten erinnert, als auf umliegenden Militäranlagen noch deutlich mehr Betrieb war als heute. Vergleiche mit einem vorbeifahrenden Panzer kamen angesichts der weltpolitischen Lage sehr schnell und fühlten sich bedrückend real an.
Stimmen aus der Region – und Eindrücke von Schäden
Auch Erdbebenschäden konnten wir an zwei unserer vier Stationen begutachten: Risse im Fundament einer Mauer. Risse im Verputz. Herabbröckelnde Putzstücke. Eine verzogene Tür. Für mich, der regelmäßig große Erdbebenkatastrophen aus sicherer Entfernung im Detail durchleuchtet, überraschend eindrucksvoll. Kein Tod, keine Zerstörung – mit einem halben Tag Arbeit behoben. Und doch ein seltsames Gefühl, dies auf halber Strecke zwischen Berlin und Leipzig zu sehen.

Brandenburg ist kein Einzelfall. Immer wieder kommt es zu Erdbeben – großen und kleinen –, die in dieser Form in der jeweiligen Region noch nie gesehen wurden. Erdbeben aus dem Nichts – „Out of the Blue“. Ein paar Beispiele der letzten Jahrzehnte aus Europa:
25. Oktober 1976: M 4.6 Estland
19. Mai 2000: M 3.1 bei Schwerin
21. Juli 2001: M 3.4 bei Rostock
21. September 2004: M 4.6 Kaliningrad (Russland)
16. Dezember 2008: M 4.3 Südschweden
3. Februar 2015: M 4.5 bei Sumy (Ukraine)
Das Problem bei Erdbeben in Gebieten mit geringer tektonischer Aktivität: Oft sind die tektonischen Prozesse, die ursächlich für die Erdbeben sind, so langsam, dass das letzte Erdbeben lange vor Beginn menschlicher Aufzeichnungen stattfand. Teils können zwischen zwei Erdbeben Tausende, wenn nicht Zehntausende Jahre liegen. Für die Generation, die ein solches Erdbeben erlebt, kommt es aus dem Nichts. In geologischen Zeitskalen ist es aber erklärbar. Daher ist kein Ort der Welt komplett sicher vor Erdbeben, nur weil dort noch nie etwas registriert wurde.
Der Tag in Brandenburg endete auf spontane Einladung des Schlossbesitzers mit Tee und Keksen in einem prunkvollen Wohnzimmer. Ein Erlebnis, für mich so unerwartet wie das Erdbeben in Schlieben selbst. Nach vielen schlafarmen Tagen, viel Stress und zehn Stunden im Auto fühlte ich mich in diesem Schloss auch genauso fehl am Platz.
Warten auf Nachbeben – und eine leise Enttäuschung
In den kommenden Wochen hieß es, die neuen Messwerte aus Brandenburg mit Argusaugen beobachten. Jedes Nachbeben ist Gold wert. Und ich fühlte, dass Tausende Menschen zwischen Schlieben und Herzberg mindestens genauso sehr auf Nachbeben warteten wie ich. Es vergingen Tage. Wochen. Weihnachten. Und es kam der Tag, an dem wir entschieden, die Stationen zurückzuholen.
Es war im Grunde von Beginn an klar: Bei (im globalen Maßstab) eher leichten Erdbeben um Magnitude 3 halten Nachbebensequenzen selten länger als ein paar Stunden an – vielleicht wenige Tage. Dann ist die Restspannung, die das Hauptbeben in der Erdkruste hinterließ, meist abgebaut. An Tag 5 nach dem Erdbeben erst die Stationen aufzustellen, war sehr spät. Zu spät, wie sich herausstellte. Die Nachbeben, falls es sie überhaupt gegeben hat, waren bereits vorbei. Ohne Nachbeben gab es auch keine Hoffnungen, mehr über das Hauptbeben herauszufinden. Die Frage Tausender Menschen, was am 18. Oktober 2024 unter ihren Füßen geschehen ist, bleibt bis auf Weiteres unbeantwortet.
Was bleibt: Techniktest, Netzwerke – und Demut
SCHUL, die Station am Schulmuseum Schwarzenburg, verbleibt als letzte seismologische Bastion – zumindest noch eine Weile. Falls doch noch ein Erdbeben kommt. Nur für den Fall und für die Hoffnung, am Ende doch noch Antworten liefern zu können. Doch auch wenn das eigentliche Ziel scheiterte, nehme ich sehr viel aus diesen sehr ereignisreichen Tagen mit. Rein technisch: der Testlauf, unter Wettkampfbedingungen in kürzester Zeit ein mobiles Stationsnetz aufzubauen – nach einem zukünftigen größeren Erdbeben in Thüringen Pflicht für das TSN. Aber auch auf menschlicher Ebene:
Die Faszination, die Personen aller sozialen und beruflichen Gruppen aus Schlieben und Umgebung binnen Sekunden für ein Thema entwickelten. Die bedingungslose und äußerst spontane Hilfsbereitschaft. Und natürlich die Eindrücke eines Jahrhunderterdbebens in Deutschland, mit dem niemand jemals gerechnet hätte. Allein das ist eine Botschaft für sich. Erdbeben können passieren. Immer. Überall. Ohne Vorwarnung. Auch in Brandenburg, das auch am 18. Oktober 2025 erst fünf Erdbeben in seinem über 100 Jahre alten Katalog hat.