Kann ein Erdbeben in Alaska ein „Nachbeben“ bei Aachen auslösen?
Eine neue Studie der Ruhr-Universität Bochum zeigt: Ja, das ist tatsächlich möglich. Forscherinnen und Forscher um Marco P. Roth und Rebecca M. Harrington haben untersucht, wie Erdbebenwellen aus der ganzen Welt die empfindlichen Störungen im Niederrheinischen Graben beeinflussen. Sie fanden erstaunlich klare Belege für sogenannte „ferndynamische Triggerung“.

Demnach können selbst winzige Spannungsänderungen durch die Erschütterungen weit entfernter Großbeben lokale Verwerfungen anregen. Besonders empfindlich reagiert offenbar das Gebiet zwischen Eschweiler und Aachen, wo in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder leichte Erdbeben aufgetreten sind – und wo derzeit auch ein Testfeld für geothermische Energiegewinnung entsteht. Diese getriggerten Erdbeben folgen binnen kurzer Zeit auf große Erdbeben, unterscheiden sich aber von klassischen Nachbeben.

Erdbeben aus aller Welt als „Stresstest“ für das Rheinland

Für ihre Analyse werteten die Forschenden 50 Jahre Erdbebendaten aus. Sie prüften, ob die Erdbebenraten im Rheinland nach dem Durchgang der Erdbebenwellen großer Beben weltweit anstiegen. Insgesamt wurden 23 Fernbeben untersucht – darunter das 1992er Roermond-Beben, das 2021er Chignik-Beben in Alaska, das Kahramanmaraş-Beben in der Türkei (2023) und das 8,8 starke Kamtschatka-Beben im Sommer 2025.

Grafik aus Roth et al. (2025): Karte der getriggert Beben durch das Erdbeben in Roermond 1992 und das Erdbeben in Alaska 2021 in der Region um Aachen und Eschweiler.

Das Ergebnis:
In vier Fällen stieg die Mikrobebenaktivität im Rheinland signifikant an – teils innerhalb weniger Stunden, teils mit mehreren Tagen Verzögerung. Besonders auffällig: Die Beben in Alaska und Kamtschatka, deren Wellen die Region über 8.000 Kilometer weit erreichten, verursachten messbare seismische Reaktionen in Nordrhein-Westfalen und den Niederlanden. Meist waren dies Mikroerdbeben unter Magnitude 2. Die Forschenden heben jedoch auch die Erdbebensequenz in Düren in den Jahren 1755 und 1756 mit Beben bis M6.2 hervor. Diese passierte wenige Wochen nach dem katastrophalen Erdbeben von Lissabon (M8.5). Eindeutige Hinweise auf eine Kausalität sind rückwirkend aber nicht ermittelbar.

Kaum messbarer Stress, große Wirkung

Die Spannungsänderungen, die solche Fernbeben auslösen, sind winzig – oft nur wenige Kilopascal, vergleichbar mit dem Druck einer schwachen Meereswelle oder den Gezeitenkräften des Mondes. Dennoch genügen sie offenbar, um bereits stark vorgespannte Bruchflächen „anzutippen“, die kurz vor dem Versagen stehen. Ob dies geschieht, hängt aber auch von weiteren Faktoren ab, darunter die räumliche Orientierung der Störung.

Besonders empfindlich reagieren laut der Studie die Feldbiss- und Sandgewand-Störungssysteme nahe Eschweiler. Dort fanden die Forschenden gleich mehrere Anzeichen für „nachlaufende“ Mikroerdbeben, die sich nicht allein durch klassische Nachbeben erklären lassen. Die Autoren vermuten, dass hier aseismisches Gleiten – also kaum messbare, langsame Bewegungen entlang einer Störung – die lokalen Erdbeben triggert. Dieses wurde in früheren Studien auch an anderen Orten wie Japan und Neuseeland nachgewiesen.

Warum das für Geothermie wichtig ist

Die Region um Weisweiler ist derzeit Standort eines geothermischen Pilotprojekts, bei dem Wasser in tiefe Gesteinsschichten injiziert werden soll, um Wärme oder Strom zu gewinnen. Die Studie liefert hier wertvolle Hinweise:
Wenn schon natürliche, ferne Erdbeben in der Lage sind, lokale Störungen minimal zu aktivieren, sollten Bohr- und Injektionsprojekte besonders sorgfältig auf Spannungszustände und Störungsgeometrie achten.

Mit anderen Worten: Das Rheinland bietet ideale Bedingungen, um das Verhalten von Störungen unter schwankendem Stress zu untersuchen – aber auch Anlass zur Vorsicht, wenn man in die Tiefe eingreift.

Originalpublikation:

M P Roth, R M Harrington, A Verdecchia, D Kilb, Using remote-dynamic earthquake triggering as a stress meter: identifying potentially susceptible faults in the Lower Rhine Embayment near Weisweiler, Germany, Geophysical Journal International, 2025;, ggaf412, https://doi.org/10.1093/gji/ggaf412

 

Korrekturhinweis 27. Oktober: Auf Anmerkungen des Studienautors (siehe Kommentar unten) wurden ein paar Formulierungen angepasst, ohne inhaltliche Änderungen am Originaltext vorzunehmen.

Von Jens Skapski

31 Jahre alt (geboren 1994), seit 2013 Betreiber von Erdbebennews (privates Projekt), seit 2024 Erdbebenauswerter beim Thüringer Seismologischen Netz an der Uni Jena (beruflich).

3 Gedanken zu „Wie durch ferne Erdbeben im Rheinland neue Beben entstehen können“
  1. Hallo Jens,
    ich freue mich sehr, dass unsere aktuelle Studie Dein Interesse geweckt hat – vielen Dank dafür!
    Einige Punkte möchte ich aber gern etwas präzisieren, damit das Bild vollständig korrekt bleibt:

    Kein „Nachbeben“ von Alaska in Aachen
    Ein starkes Beben in z.B. Alaska sendet seismische Wellen bis ins Rheinland und verursacht dort minimale Spannungsänderungen. Diese können – unter bestimmten Voraussetzungen – lokale Störungen anregen, die bereits nahe am Versagen stehen.
    Das sind jedoch keine typische Nachbeben im eigentlichen Sinn, sondern lokale Ereignisse, die möglicherweise ferndynamisch getriggert wurden. Nachbeben entstehen dagegen direkt im Umfeld eines Hauptbebens durch lokale Spannungsumlagerungen.

    Aseismisches Gleiten ≠ Vorzeichen großer Subduktionsbeben
    Wir beschreiben aseismisches Gleiten im Niederrheinischen Graben als Stress-Transfer-Mechanismus, nicht als potenzielles Vorzeichen großer Erdbeben. Anders als an Subduktionszonen liegen hier Abschiebungen vor – also ganz andere geodynamische Rahmenbedingungen und deutlich kleinere Störungszonen als bei Überschiebungen in Subduktionssystemen.

    Zur historischen Dürener Sequenz von 1755–1756
    In unserer Studie erwähnen wir, dass in diesem Zeitraum mehrere moderate Beben in der Region – aber vor allem im weiteren europäischen Umfeld – dokumentiert wurden, zeitlich kurz nach dem Lissabon-Erdbeben.
    Ob ein Zusammenhang besteht, lässt sich nur spekulativ annehmen. Die historischen Daten erlauben keine quantitativen Aussagen zu einer Triggerung, auch wenn die zeitliche Koinzidenz anekdotisch interessant ist.

    Zur Relevanz für Geothermie-Projekte
    Unsere Ergebnisse zeigen, dass ferndynamische Effekte lokal messbar sein können, jedoch selten auftreten und nicht gefährlich sind.
    Für geothermische oder andere Tiefbohrprojekte bedeutet das vor allem: Eine sorgfältige Standortcharakterisierung ist wichtig. Es bedeutet nicht, dass ein akutes Risiko besteht.
    Aus diesem Grund sind viele Forschungsgruppen – unter anderem auch das SIEGFRIED-Projekt (gefördert vom BMWK) – an einer prä-operativen, interdisziplinären seismo-tektonischen Standorterkundung interessiert.

    Wir freuen uns, dass das Thema öffentliche Aufmerksamkeit erhält – es zeigt, wie dynamisch und spannend auch (global betrachtet) „ruhige“ Regionen wie das Rheinland aus geophysikalischer Sicht sein können.

    Bei weiteren Fragen stehe ich Dir und Euch gerne auch für Rückfragen zur Verfügung:
    marco.roth@rub.de

    Liebe Grüße
    Marco

    1. Hallo Marco,
      vielen Dank für die konstruktiven Hinweise. In der Tat waren einige Formulierungen ungeschickt gewählt oder kontextbezogen missverständlich. Ich habe diese angepasst oder entfernt.
      Viele Grüße,
      Jens

  2. Moin Jens,

    ich bin jetzt mal so frei und spreche dich mit „du“ an. 🙂

    Ich wohne in Aachen und Eschweiler liegt in Sichtweite.
    Von daher schon mal sehr interessant und danke für solche Einblicke.
    Ich bin aber auch auf den Philippinen unterwegs und einer meiner Standorte da ist auf Leyte.
    The Tongonan Geothermal Power Station[1] is a 232.5 MW geothermal power plant or an earth steam turbined electric generator—the world’s largest geothermal power plant squatted under one roof located in Tongonan, Kananga, Leyte, Philippines. The power plant is one of four operating in the Leyte Geothermal Production Field.[1] The power plants serve 10 million households in Visayas with an average of 160 kiloWatthour per Household of 3 per month. The other 7 million is served by the Panlipin-on Geothermal Power of 100 Megawatts.

    Die Philippinen sind ja auf dem Feuerring und dementsprechend gibt es da sehr viele Erdbeben.
    1. Frage: Wie gravierend können solche Beben für die Funktionalität der Kraftwerke sein?
    Ich vermute, dass kann bis zum Totalausfall reichen.
    2. Frage: Werden Erkenntnisse aus anderen Regionen kurzfristig in die Betrachtung für das Geothermieprojekt in Eschweiler herangezogen oder wird so etwas eher über längere Zeiträume betrachtet?

    Grüße aus dem Westen der Republik
    Ralf

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