Erdbebenaufzeichnungen in der Türkei reichen weiter zurück als die Geschichtsschreibung mancher anderen Länder. Schon aus der frühen Antike gibt es Berichte über zerstörerische Beben in Anatolien und Vorderasien, vor allem aus einigen der bedeutendsten Städten ihrer Zeit wie Konstantinopel oder Antioch. Zwei Städte, die in ihrer Geschichte nicht nur einmal von Erdbeben zerstört wurden. Zwei Städte, die mit ihren Geschichten auch wichtige Informationen zum Verhalten der zwei größten Störungszonen der Türkei überliefern.

Die Geschichte von Istanbul, dem ehemaligen Konstantinopel, kennt man: Nordanatolische Störung, eine nach Westen tendierende Sequenz schwerer, zerstörerischer Erdbeben mit einer offenen Lücke genau vor den Toren der heutigen Metropole. Eine Katastrophe, die unmittelbar bevor steht.
Die Geschichte von Antakya, ehemals Antioch, ist mit dem Bedeutungsschwund der Stadt in der Moderne weniger präsent: Hier ist es die Ostanatolische Störung, die in der Geschichte ein ähnliches Verhalten aufwies, wie ihr nördlicher Bruder. Nur ist es hier nicht Antakya, das auf die nächste Katastrophe wartete.

Auch entlang der Ostanatolischen Störung kam es im 19. Jahrhundert zu einer Sequenz mehrerer schwerer Erdbeben. Diese Störungszone erstreckt sich, wie der Name schon sagt, im östlichen Teil der Türkei. Sie beginnt im Südwesten an der türkischen Küste im Grenzgebiet zu Syrien (wo sich Antakya befindet) und verläuft von dort in nordöstliche Richtung, bis sie in der Provinz Bingöl auf die Nordanatolische Störung trifft. Der zwischen beiden Störungen liegende Teil Anatoliens bewegt sich nach Westen. Beide Störungen bilden die tektonischen Grenzen von Anatolien zu den angrenzenden (Mikro-)Platten. Entsprechend wird hier der Großteil der bei der Bewegung aufgestauten Energie freigesetzt, was in Form wiederkehrender schwerer Erdbeben geschieht.
Begonnen 1866 im äußersten Nordosten (wo auch 1939 die noch nicht beendete Nordanatolische Erdbebensequenz ihren Anfang hatte) kam es innerhalb von wenigen Jahren zu vier schweren Erdbeben: Magnitude 7.2, Magnitude 7.1 im Jahr 1874, Magnitude 6.7 1875 (beide in Elazig) sowie Magnitude 7.1 im Jahr 1893 in Malatya und Adiyaman. Zuvor kam es bereits 1822 (in Antakya) und 1513 in Kahramanmaras zu Beben mit Magnitude 7.5 bzw 7.4, sodass dort für eine weiter nach Süden fortschreitende Erdbebenserie nicht genug Spannung im Gestein war.

Verlauf der Ostanatolischen Störung mit Lage der jüngsten schweren Erdbeben gem. Duman & Emre (2013) an den einzelnen Segmenten. Die roten Kreise im mittleren Abschnitt stellen die aktuellen Erdbeben (EMSC-Daten) dar. Das mit einem schwarzen Balken markierte Segment des Erdbebens im Jahr 1822 ereignete sich am östlichen Arm der Ostanatolischen Störung. 

Solche Erdbebenserien sind nicht auf Anatolien beschränkt, sondern kommen auch an anderen großen Störungen vor. Das Prinzip dahinter ist, dass das erste Erdbeben an den benachbarten Störungssegmenten zusätzliche Spannung aufbaut, sodass auch dort die Stabilität kurz vorm Kippen ist. Ein Domino-Effekt, der aber nicht immer reibungslos verlaufen muss:
Entlang der Ostanatolischen Störung lies die Erdbebenserie des 19. Jahrhunderts zwei Abschnitte unberührt, hat sie also quasi übersprungen: Zum einen rund um Bingöl (die durch M6.7 und 6.1 Erdbeben in den Jahren 2010 und 1971 teilweise geschlossen wurde) und zum anderen zwischen Elazig und Malatya. Zwei seismische Lücken, in denen sich seit über 1000 Jahren Spannung aufbaute und wo (wie in Istanbul) das nächste große Erdbeben unmittelbar bevorstehen könnte.

Eine dieser Lücken hat sich mit dem gestrigen Erdbeben zumindest teilweise geschlossen.
Das Erdbeben der Stärke 6.8 hatte sein Epizentrum nahe der Stadt Elazig genau an der Ostanatolischen Störung. Genau dort, wo das Erdbeben im Jahr 1875 aufhörte.
Die bisher bestätigten Auswirkungen des Bebens machen es zum zerstörerischsten Beben der Türkei seit immerhin neun Jahren: Mindestens 21 Todesopfer, weit über 1000 Verletzte (Stand: 25. Januar, 9 Uhr). Eine massive Katastrophe, wie sie für Istanbul prognostiziert wird, ist es zwar nicht, allein schon aufgrund der deutlich geringeren Bevölkerungsdichte. Doch zeigt dieses Ereignis, wie Erdbeben funktionieren können und wie man eine Idee davon bekommt, welche Orte besonders gefährdet sind.

Nachbebenprognose

Das genaue Ausmaß der seismischen Lücke zwischen Elazig und Malatya ist nicht bekannt, da man über die Beben des 19. Jahrhunderts keine exakte Daten hat. Duman & Emre (2013) schätzten die Länge dieses als Pütürge-Segment bekannten Abschnitts auf rund 75 Kilometer, basierend auf geologischen Daten zu früheren Beben. Das letzte bekannte schwere Erdbeben im Jahr 499 erreichte etwa Magnitude 7.
Ob das Erdbeben am Freitag die seismische Lücke komplett geschlossen hat und die gesamte aufgestaute Spannung freigesetzt hat, ist noch nicht klar. Die Verteilung der bisher registrierten Nachbebenaktivität (die vergleichsweise gering ausgefallen ist) erstreckt sich über eine Länge von knapp 65 Kilometern, vor allem Richtung Südwesten, allerdings auch teilweise überlappend mit dem mutmaßlichen Segment des 1875 Erdbebens. Zumindest im Bereich von Malatya könnte also noch etwas Luft sein.

Eine genauere Auswertung der Erdbebendaten wird in den kommenden Tagen einen besseren Einblick in die Situation geben. Als Entwarnung für die nächsten Jahrhunderte sollten Malatya und Elazig dieses Erdbeben aber nicht ansehen. Mindestens drohen starke Nachbeben, die besonders für bereits beschädigte Gebäude fatal sein können. Und auch bei all der Perfektion und Gleichmäßigkeit, die uns die Geschichte über die Hauptstörungen Anatoliens vorspielt, gibt es keine Garantie, dass nicht dieses eine Ereignis kommt, dass die scheinbaren Spielregeln über den Haufen wirft. Für Antioch endete die Geschichte auch mit mehr als nur einem großen Erdbeben.

Duman, T. Y., & Emre, Ö. (2013). The East Anatolian Fault: geometry, segmentation and jog characteristics. Geological Society, London, Special Publications, 372(1), 495–529. doi:10.1144/sp372.14