Für die meisten sind es nur zappelige Linien in einem Diagramm, die sich mehr oder weniger chaotisch überlappen. Wer genauer hinschaut, findet jedoch viele interessante Dinge heraus. Die Schleuderzahl von Nachbars Waschmaschine. Die Verspätung des Busses vor der Tür. Explosionen von Ostsee-Pipelines. Und natürlich Erdbeben. Seismologische Daten sind nicht nur sehr wichtig, sondern in vielen Fällen auch extrem spannend. Wir zeigen, welche alltäglichen und nicht alltäglichen Erschütterungen aufgezeichnet werden können und wie jeder dank öffentlicher Daten zum Hobby-Seismologen werden kann.

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Das Rätsel um die Lecks in den Ostsee-Pipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 konnten Seismologen lösen. Dutzende Stationen in Schweden, eigentlich zur Registrierung von Erdbeben bestimmt, vernahmen drei deutliche Erschütterungen. Druckwellen durch die Erdkruste, die eindeutig von Explosionen am Grund der Ostsee stammen. Ein norwegischer Erdbebendienst hatte diese zunächst als Erdbeben interpretiert und auch in Deutschland war dieses Signal noch messbar.

Besonders Deutschland verfügt über ein stellenweise sehr dichtes Netz an seismologischen Stationen. In Gebieten mit regelmäßig hoher Erdbebenaktivität wie das Vogtland, der Hochstaufen oder die Bergbauregion Hamm findet sich auf jeden Kilometer eine Station. Andernorts ähnelt die Netzdichte eher einem Flickenteppich. Zum Beispiel in Ostwestfalen, Brandenburg und Niederbayern, findet kaum Überwachung statt. Erdbeben dort könnten nur Stationen in größerer Entfernung registrieren, was die Lokalisierung von Mikrobeben schwierig gestaltet.

Erdbebenstationen in Deutschland
Erdbebenstationen in Deutschland und Umgebung, die aktuell (29.09.2022) in Betrieb sind und Daten in Echtzeit via FDSN bereitstellen. Verschiedene Farben stellen verschiedene Netzwerke dar. Manche Netzwerke wie das Hessen-Netz (Gelb, in Hessen) oder das Bensberg-Netzwerk (Grün, NRW und RLP) sind nicht öffentlich. Stationen aus eingeschränkten Netzen (z.B. Erdbebendienst Südwest) sind hier nicht dargestellt. Stationen des Raspberry-Netzes sind rot markiert. Karte: http://ds.iris.edu/gmap

Erdbebenüberwachung in Deutschland: Von sehr dicht bis Flickenteppich

Der Grund für die ungleichmäßige Verteilung ist neben der Erdbebenaktivität und damit der Notwendigkeit für Überwachung auch die administrative Gliederung. Jedes Bundesland verfügt über einen oder mehrere offizielle oder universitäre Erdbebendienste. Jeder Erdbebendienst überwacht eine Region. Hinzu kommen zwei deutschlandweite Überwachungsnetze der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) und des Geoforschungszentrums Potsdam (GFZ). Während die BGR und regionale Dienste vor allem auf die Überwachung von Erdbeben in Deutschland spezialisiert sind, liegt der GFZ-Fokus auf große Erdbeben weltweit. Bei den meisten Erdbebendiensten stehen die Aufzeichnungen sogar der Öffentlichkeit in Echtzeit zur Verfügung.

Mexiko-Erdbeben
Einmal um den Globus: Das Erdbeben am 22. September in Mexiko (M6.8) konnte auch in deutschen Kellern registriert werden

Der Vorteil an öffentlichen seismologischen Daten: Sie ermöglichen nicht nur volle Transparenz und einfache Reproduzierbarkeit, sondern geben auch Einblick in alltägliche Dinge, die nicht in Erdbebenlisten auftauchen. Sprengungen in Steinbrüche, Überschallknalls oder auch Gewitter zählen zu solchen seismischen Ereignissen. Oft sind sie für Anwohner akustisch und teils auch mit Erschütterungen wahrnehmbar und auch Seismometer könnten diese registrieren. Dabei ist es anhand des Signals oft möglich, diese Ereignisse eindeutig zu identifizieren.

Siehe auch: Wie man in Echtzeit auf seismologische Daten zugreift

Aber auch Explosionen aller Art hinterlassen deutliche Spuren in seismologischen Aufzeichnungen. Im Falle der Zerstörung von Nord Stream Pipelines waren entsprechende Signale der entscheidende Hinweis. Durch öffentlichen Zugang zu den entsprechenden Aufzeichnungen wäre es für jeden Interessierten möglich gewesen, die Detonation bereits Minuten später als solche zu identifizieren, ohne auf die Expertise schwedischer Seismologen zu warten.

Aufzeichnungen der Station Delary (DEL) des Schwedischen Nationalen Seismologischen Netzwerks (SNSN (1904): Swedish National Seismic Network. Uppsala University, Uppsala, Sweden. Other/Seismic network. doi:10.18159/SNSN)

Seismologische Daten tausender Stationen weltweit in Echtzeit abrufbar

Doch auch bei den Seismometern selbst ist mittlerweile kein Erdbebendienst mehr zur Überwachung notwendig. Raspberry Shake* ermöglicht es seit einigen Jahren, dass kostengünstige Seismometer mit professioneller Ausstattung für Laien und Experten zur Verfügung stehen. Ebenso wie bei Erdbebendiensten, sind alle Daten öffentlich abrufbar. Weltweit sind aktuell rund 1700 „Shakes“ im Einsatz. Auch unter anderem das GFZ, das Hessische Landesamt für Naturschutz, Umwelt und Geologie (HLNUG) sowie die Universität Köln greifen auf diese Geräte zurück.

Der Vorteil gegenüber konventionellen Seismometern: Sie sind sehr klein, damit sehr mobil und der Standort kann einfach angepasst werden. Ein ruhiger Ort im Keller, in der Garage oder im Garten reicht, um weltweit Erdbeben zu registrieren und andere spannende Dinge der Umgebung zu erkunden. Möchte man zum Beispiel einen Überblick haben, wie oft die Buslinie vor der eigenen Haustür Verspätung hat, muss man nur auf die Aufzeichnungen schauen. Die Schwingungen des Busses sind mit ein bisschen Übung einfach identifizierbar und der Zeitpunkt lässt sich mit dem Fahrplan vergleichen.

Sonntagsfahrplan: Die stündlichen Busse in beide Richtungen hinterlassen ihre seismischen Spuren. In diesem Fall zeigt sich die Pünktlichkeit im regelmäßigen Muster der Signale.Dass zwischen Waschmaschine, Coldplay und Anschlägen auf die europäische Gasversorgung auch Platz für Erdbeben ist, zeigen Twitter-Nutzer. Unter dem Hashtag #ShakeNet teilen sie die Erdbeben-Aufzeichnungen ihrer Shakes. Da die Shake-Daten nicht nur für die jeweiligen Nutzer abrufbar sind, greifen auch Erdbebendienste auf die Amateur-Stationen zurück. Jede neue Raspberry-Station trägt also zu einer verbesserten Erdbebenüberwachung bei. Global, aber auch vor allem lokal, wo offizielle Erdbebenstationen bisher Mangelware sind.

Erdbebenaufzeichnungen Live aus dem Erdbebennews-Keller in Herzogenrath

In Deutschland gibt es aktuell mehrere Hundert offizielle Erdbebenstationen, die permanent seismologische Daten aufzeichnen und Erdbebendiensten zur Registrierung dienen. Ergänzt werden diese Netze momentan durch 60 Raspberry-Stationen*, teils von Universitäten und Seismologen angeschafft, teils von Privatpersonen. Für den Westen und Südwesten Deutschlands, wo die Erdbebendienste die öffentliche Nutzung ihrer Stationen einschränken, sind sie das Fenster für interessierte Laien. Im Norden und Osten sind sie dagegen eine wichtige Ergänzung zu bestehenden Netzen.

Seismologische Daten sind wichtig. Sie verraten nicht nur viel über Erdbeben, sondern auch zu Ereignissen in der näheren Umgebung und kann so wichtige Informationen an die Öffentlichkeit bringen. Transparenz der Daten kann nicht nur das allgemeine Verständnis verbessern, sondern auch Missverständnisse und Falschinformationen verringern. Der vermeintliche Elfenbeinturm der Wissenschaft steht für alle offen – zumindest in der Seismologie. Dank moderner Technik kann jede Person dazu beitragen, die Erde und die nähere Umgebung zu erforschen und mit ein wenig Übung ganz nebenbei aus zappeligen Linien Fragen des Alltags und der Nationalen Sicherheit beantworten.