Island – Seit einigen Tagen ist der Erdbebenschwarm auf der Reykjanes-Halbinsel nahe der isländischen Hauptstadt Reykjavik aktiv. Das stärkste dieser Beben, Magnitude 5.7, war das stärkste Beben der Region seit über 10 Jahren. Es verursachte Steinschläge und geringfügige Schäden an Infrastruktur und Wohnhäusern. Insgesamt aber keine großen Auswirkungen.
Dennoch lesen sich die reinen Erdbebendaten mehr als beeindruckend: Über 1000 Erdbeben allein in den ersten Stunden. Knapp 2000 sind es nun nach 48 Stunden mit einer hohen Dunkelziffer aufgrund der extremen Event-Dichte. Zwischenzeitlich stand sogar ein möglicher Vulkanausbruch im Raum. Neue Auswertungen zeigen jedoch andere, aber nicht weniger eindrucksvolle Ursachen.

Anders als die meisten Erdbebenschwärme erstreckt sich der Reykjanes-Schwarm über ein ungewöhnlich großes Gebiet, mehr als 30 Kilometer entlang der Plattengrenze, an der Europa und Nordamerika auseinander driften. Normalerweise ist die Ausdehnung von Erdbebensequenzen entsprechend der Bruchgröße des Hauptbebens. Je stärker das Hauptbeben, umso größer der Bruch, umso größer und ausgebreiteter die folgende Nachbebensequenz. Bei einem Hauptbeben mit Magnitude 5.7 ist der Bruch allerdings nur wenige Kilometer lang und in diesem Fall zudem nahezu senkrecht zur Ausdehnung des Schwarms orientiert. Ursächlich für die großflächige Aktivität ist in diesem Fall also nicht das Hauptbeben, sondern das Hauptbeben ist eine Folgeerscheinung eines noch größeren Prozesses.

Auffällig zudem: Entlang dieser Aktivitätszone gibt es mehrere Schwerpunkte, unter anderem nahe Grindavik, zwei Sequenzen entlang des Krysuvik-Vulkanfeldes (das inzwischen auf Warnstufe Gelb gesetzt wurde) wo sich auch das größte Hauptbeben ereignete sowie ganz im Osten südlich von Reykjavik. An diesen Schwerpunkten gab es jeweils unabhängige Bebensequenzen, ausgehend von lokalen Hauptbeben. Somit haben wir es nicht mit einer direkt zusammenhängenden, einzelnen Erdbebensequenz zu tun, sondern mit mehreren zeitgleich aktiven kleineren Sequenzen, die entlang der Plattengrenze aufgereiht ihr eigenes Spiel spielen und, dafür spricht die zeitliche und räumliche Korrelation, sehr wahrscheinlich alle einen gemeinsamen Auslöser haben.

Abbildung 1: Epizentren des Reyjanes-Schwarms basierend auf Lokalisierungen der Isländischen Meteorologiebehörde (vedur.is). Geplottet sind nur Erdbeben mit einer Lokalisierungsqualität von mindestens 85%.
Markiert sind zudem einige weitere vermutete Bruchflächen.

Dieser mögliche Auslöser konnte nun mit Hilfe von Satellitendaten (hier oder auch hier, Links zu Twitter) identifiziert werden. Es zeigt sich ein breites Gebiet mit horizontaler Verschiebung, das sich in etwa Ost-West-Richtung quer durch die Halbinsel zieht. Dabei verschob sich der Boden entlang der dortigen Plattengrenze um einige Zentimeter gegeneinander. Hinzu kommen lokalere Verschiebungen nahezu senkreicht, also in Nord-Süd-Richtung zu der Plattengrenze, teils aber mit einem größeren Versatz. Diese lokalen Verschiebungen korrelieren mit den Erdbebenschwerpunkten. Den größten Versatz gibt es an dem Bruch, der das größte Erdbeben hervorgebracht hat (Hauptbruch).

Abbildung 2: Nach einer InSAR-Auswertung von @Sjonni_KAUST (siehe eingebetteter Tweet oben). Die Grafik zeigt die Bodenverschiebungen seit Beginn der Erdbebensequenz auf der Reykjanes-Halbinsel. Reykjavik befindet sich im äußersten Nordosten (rechts oben) der Karte. Ein kompletter Farbverlauf entspricht einer Verschiebung von 2,8 Zentimeter. Markiert sind zudem in Schwarz die weiteren kleineren Bruchflächen bzw. in Rot die des Hauptbebens, die sich aus der Erdbebenverteilung ergeben sowie der Verlauf der Verschiebung entlang der Plattengrenze in Weiß.

Wir sehen also, dass die große Hauptverschiebung entlang der Plattengrenze wahrscheinlich ursächlich für die kleineren Brüche war. Möglicherweise kann man sogar davon ausgehen, dass der Versatz entlang der Grenze in größerer Tiefe und sogar aseismisch, also langsam und ohne direkte Erdbeben, vonstatten ging. In den geringeren Tiefen von unter fünf Kilometern führte der größere Versatz in der Tiefe aber zu Stressreaktionen an Nord-Süd-verlaufenden Störungssystemen. Nahezu zeitgleich kam es an diesen Störungen zu Erdbebenaktivität, was zu mehreren individuellen Sequenzen führte. Dabei kann man jeweils von typischen Haupt- und Nachbebensequenzen ausgehen, da alle größeren Erdbeben innerhalb weniger Stunden direkt zu Beginn der Aktivität auftraten.

Somit handelt es sich bei dem vermeintlichen Erdbebenschwarm um eine komplexe Erdbebensequenz, ein zunächst rein tektonisches Phänomen, ausgelöst von einer großflächigen langsamen Verschiebung entlang der Plattengrenze in der unteren Kruste, ähnlich eines Slow Slip Events, die wiederum Störungen in der oberen Kruste aktiviert hat. Ob diese aseismische Verschiebung der Plattengrenze möglicherweise eine Folge der jüngst detektierten magmatischen Prozesse auf der Reykjanes Halbinsel ist und das eindringende Magma bzw. die Gase als eine Art Schmiermittel wirkten, ist nicht abschließend zu klären. Ebenso ist möglich, dass aufgrund der Präsenz von aktiven Magmakammern in der unteren Kruste die Hauptverschiebung aseismisch erfolgte, weil es zu heiß für spröde Brüche und damit für Erdbeben war.
Jedenfalls stellt die Erdbebensequenz ein ideales Beispiel für das Zusammenspiel vielfältiger tektonischer und magmatischer Prozesse dar, wie sie gerade an divergenten Plattengrenzen, die sich überwiegend tief im Meer befinden, immer wieder vorkommen.