Erdbeben im Zollernalbkreis sind erstmal nichts ungewöhnliches. Die Region befindet sich seit fast 150 Jahren in einer seismischen Krise und gilt seitdem als erdbebengefährdetstes Gebiet Deutschlands. Die Geschichte von den großen Erdbeben 1911, 1943 und 1978 ist bekannt. Die jüngsten spürbaren Erdbeben bei Albstadt wecken Ängste und Sorgen. Vor allem, weil es in den letzten Tagen eine Aktivitätssteigerung gab. Es stellt sich die Frage: Was ist das Hauptbeben?
Am Samstagabend (19. Februar) war es wieder soweit: Das sechste „Dreier“ innerhalb von zwei Jahren hat viele Menschen im Zollernalbkreis und darüber hinaus in ihrer abendlichen Ruhe gestört. Magnitude 3.1 bis 3.3, Epizentrum irgendwo im Norden von Albstadt. Was viele Schwaben als ihren Alltag akzeptieren, ruft bei anderen Besorgnis hervor. Besonders, wenn man das neue Erdbeben im Kontext mit den vergangenen Tagen sieht. Dort gab es an gleicher Stelle bereits einige kleine Erdbeben sowie ein spürbares mit Magnitude 2.6 drei Tage zuvor. Hauptbeben werden zu Vorbeben-Hauptbeben und werden zu Vorbeben-Vorbeben-Hauptbeben. Es wirkt wie eine sich aufbauende Welle, die bei den älteren Generationen Erinnerungen an 1978 weckt.
Generation, die sich an eine Zeit ohne Erdbeben erinnern, finden sich nicht mehr. Dass die seismische Zone, die sogenannte Albstadt-Scherzone (nicht zu verwechseln mit dem wahrscheinlich inaktiven Hohenzollerngraben), an der eine etwa Nord-Süd verlaufende horizontale Verschiebung stattfindet, im Mittelalter und der frühen Neuzeit keine bekannten Erdbeben auslöste, macht die Region besonders interessant. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzten Erdbeben ein, die dann in dem ersten großen Erdbeben 1911 gipfelten und seitdem andauern. Mal in aktiveren Phasen, mal in weniger aktiven, wie man es von anderen Erdbebengebieten kennt.
Tatsächlich kann man sagen, dass das, was wir seit Ende 2019 erleben, die aktivste Phase an der Albstadt-Scherzone seit Jahrzehnten ist. Betrachtet man die Daten gesicherter instrumenteller Aufzeichnungen (Abbildung 2) sieht man seit 2003 kein stärkeres Erdbeben und vor allem auch keine Phase mit ähnlich hoher Erdbebendichte. Die Frage, ob dies möglicherweise ein neues großes Erdbeben wie 1978 ankündigt, scheint somit auf dem ersten Blick nicht unberechtigt.
Noch deutlicher wird es, wenn man sich nur die letzten Jahre anschaut und auch kleinere Erdbeben berücksichtigt.
Seit Ende 2019 gab es vermehrt Erdbebensequenzen, größere Erdbeben mit Nachbeben. Da sich die meisten dieser größeren Erdbeben in einem relativ kleinen Bereich zwischen Jungingen und dem Norden von Albstadt ereigneten, kann ein Teil der Aktivität als zusammenhängendes, sich teils geringfügig verlagerndes Erdbebencluster ohne eindeutiges Hauptbeben angesehen werden. Ausnahme davon bilden die größeren Erdbeben Ende 2019 und Anfang 2020. Ersteres ereignete sich im Bereich Truchtelfingen, Letzteres südöstlich von Bisingen.
Schaut man sich die historische Erdbebenaktivität in der Region an (Abbildung 4), fällt eine ähnliche Clusterbildung auf, die sich vor allem im Umfeld der großen historischen Erdbeben erstreckt. Das erste noch aktive Cluster, an dessen Nordrand sich das Beben 2019 ereignete, erstreckt sich in einer Linie am Westrand von Ebingen. Im Zentrum dieses Clusters sitzt das Erdbeben 1911 (M6.1).
Cluster 2 liegt im Bereich des 1943-Erdbebens am Westrand von Tailfingen. Dieses Cluster war in den vergangenen beiden Jahrzehnten nicht mehr nennenswert aktiv. Ausnahme bildet hier das Beben am 27. Januar 2020 am Nordwestrand des Clusters. Eine eindeutige Zuordnung ist hier aber unklar.
Cluster 3 erstreckt sich vom 1978er Epizentrum nordöstlich von Tailfingen nach Norden bis Jungingen. Es ist dieses Cluster, was aktuell und in den letzten Jahren die meisten Erdbeben hervor gebracht hat, so auch das Erdbeben gestern.
Eine vierte aktive Zone erstreckt sich großflächig etwa von Hechingen bis nach Mössingen. Große Erdbeben gab es in diesem Bereich nicht, allerdings hat in diesem Gebiet mit Erdbeben und Erdbebenserien in den Jahren 1872, 1875 und 1879 die Erdbebenaktivität auf der Zollernalb begonnen, der dann einige Jahrzehnte später das M6.1 1911 folgte.
Zusammengefasst kann man sagen: Aktuelle Erdbeben finden überwiegend dort statt, wo in der Vergangenheit große Erdbeben auftraten. Ausnahmen wie das Beben 2020 oder auch aktuelle kleine Erdbebenschwärme südöstlich von Tailfingen gibt es. Doch lässt die Korrelation den Schluss zu, dass es sich bei den neueren Zollernalb-Erdbeben überwiegend um Nachbebensequenzen von 1911 und 1978 handelt. Langfristige Nachbebensequenzen mit einzelnen, individuellen kurzfristigen Haupt- und Nachbebenserien.
Die hohe Dichte an Erdbeben seit dem 20. Jahrhundert ist irreführend. Der Zollernalbkreis ist keine Region, in der alle 40 Jahre ein schweres Erdbeben zu erwarten ist, dafür sind die tektonischen Kräfte zu schwach. Wiederkehrperioden liegen eher im Bereich von Tausenden Jahren, wie man es von Oberrhein oder Niederrhein kennt. Was wir also aktuell (seit über 100 Jahren) sehen, ist ein langsamer Dominoeffekt, an der Stück für Stück die seit Jahrtausenden aufgebaute Spannung abgebaut wird. Ähnliches haben wir im schnelleren Durchlauf in den letzten Jahren in Mittelitalien gesehen oder vergangenes Jahr auch im Norden von Griechenland.
Aber es bleiben Fragen: Wie viele Dominosteine gibt es? 1911, 1943 und 1978 sind drei große Steine gefallen, die viele kleine in Bewegung gesetzt haben, die bis heute umkippen. Die Steine der letzten Jahre liegen im äußersten Norden des Spielfeldes. Aber ist es noch die Kette, die 1978 angestoßen hat oder ist das, was gestern passiert ist, was wir seit 2020 vermehrt beobachten, bereits der Anlauf auf den vierten Stein?
Wenn der letzte Stein gefallen ist, wird die Zollernalb wieder für viele Jahrtausende einschlafen, bis man vergessen hat, dass es dort überhaupt Erdbeben gibt. Zukünftige Generationen werden 1911 noch einmal erleben und sehr überrascht sein. Wir haben den Vorteil, dass wir wissen, was möglicherweise noch passieren wird. Darum ist der Zollernalbkreis neben dem südlichen Niederrhein und dem äußersten Südwesten Deutschlands eine von drei Regionen in Erdbebenzone 3. Hier muss erdbebensicher gebaut werden, weil man (noch) häufig Erdbeben und Erdbebensequenzen erlebt und ein viertes großes Beben in naher Zukunft nicht ausgeschlossen werden kann. Ein Vorteil gegenüber vielen anderen Regionen.
Spürbare Erdbeben und Erdbebenserien sind Alltag auf der Zollernalb, seit ein paar Jahren noch ein kleines bisschen mehr. Durch die Vergangenheit wissen wir zumindest grob, warum (auch wenn die Frage nach dem Ursprung der Aktivität noch Gegenstand der Forschung ist) und durch die Vergangenheit haben wir eine grobe Idee davon, was die Zukunft bringen könnte. Doch die Antwort, ob wir uns auf ein zwischenzeitliches Ende zubewegen, oder noch mitten im Spiel sind, wissen wir erst, wenn wir das letzte Hauptbeben kennen.
Datenquellen Grafiken:
Abbildung 1:
ShakeMap und Zeugenmeldungen: erdbebennews.de
Abbildung 2:
Instrumentell registrierte Erdbeben des LGRB – Baden-Württemberg
Abbildung 3:
Erdbeben seit 2015: Erdbebendienst Südwest
Abbildung 4:
Historische spürbare Erdbeben (vor 1994): Leydecker, Günter. „Erdbebenkatalog für Deutschland mit Randgebieten für die Jahre 800 bis 2008.“ (2011)
Erdbeben seit 1994: Instrumentell registrierte Erdbeben des LGRB – Baden-Württemberg
Rezente Erdbeben: Erdbebendienst Südwest
Erdbebenzonen: Grünthal & Bosse (1996) bzw. Grünthal u.a. (1998)
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