Die Wahrscheinlichkeit, dass es in Deutschland zu einem schweren Erdbeben kommen wird, beträgt 100%.
Die Wahrscheinlichkeit, dass in Deutschland ein Vulkan ausbrechen wird, beträgt 100%.

Das Spiel mit Wahrscheinlichkeiten hat seine Tücken. Viele Menschen machen es, weil es zum Verständnis eines Sachverhaltes beiträgt oder gar notwendig ist, um gewisse Entscheidungen zu treffen. Gerade für Nichtexperten bieten sich so zudem Anhaltspunkte zur Einordnung, zum Vergleich mit alltäglicheren Dingen. Das Saarland-Spiel für komplexe Daten.
Was verlockend einfach klingt, wirft aber schon bei grober Betrachtung einige Fragen auf.

Welches Erdbeben passt ins Saarland und wenn ja, muss sich Kaiserslautern auch Sorgen machen?

Entscheidend werden solche Fragen, wenn es um Sicherheit und Schutzmaßnahmen geht. Im April musste sich das Innenministerium Rheinland-Pfalz mit diesem Thema beschäftigen. Der Abgeordnete Stephan Wefelscheid von den Freien Wählern stellte eine Kleine Anfrage nach der Vorbereitung der Landesregierung auf ein mögliches schweres Erdbeben oder einen Vulkanausbruch in Rheinland-Pfalz und ob angesichts der Flutkatastrophe im Ahrtal Schutzmaßnahmen überdacht würden. Dabei nahm er auch Bezug auf eine frühere Anfrage aus dem Jahr 2017, nach der spezielle Katastrophenschutzpläne für Erdbeben und Vulkanausbrüche als „nicht notwendig“ bezeichnet wurden und eher die Selbsthilfefähigkeit der Bürger als relevant angesehen wird.

An dieser Einschätzung hat sich offenbar wenig verändert. Weiterhin gibt es gemäß der Antwort des Innenministeriums keine Planungen für spezielle Katastrophenschutzmaßnahmen. Als Begründung wird hier die „geringe Wahrscheinlichkeit“ genannt, die es anders als bei Hochwasserereignissen oder Waldbränden nicht erforderlich mache.
Verantwortlich für die Selbsthilfefähigkeit und Eigenverantwortung der Bürger, auf die offenbar weiterhin wert gelegt wird, seien demnach die Gemeinden und örtliche Feuerwehren. Zudem sei der Einsatz der Katwarn-App vorgesehen.

Wie viele Legislaturperioden passen in ein Saarland?

Erdbeben sind Katastrophen ohne wirkliche Möglichkeit der Vorhersage oder Frühwarnung. Anders als bei Hochwasser oder Waldbränden, wo eine rechtzeitige Evakuierung betroffener Gebiete möglich sein könnte, müssen hier andere Maßstäbe angelegt werden. Durch die in Rheinland-Pfalz teilweise gültigen Bauvorschriften ist Gebäudesicherheit zumindest bei neueren Strukturen oft gegeben. Das heißt aber nur, dass diese Gebäude wahrscheinlich nicht komplett zerstört werden. Gefährlich bleibt es für Menschen dennoch. Wie viele Bürger wüssten, wie sie sich bei einem Erdbeben, wo wenige Sekunden entscheidend sind, richtig schützen können? Und wie viele Bürger wüssten, ob dieses Wissen für sie überhaupt nützlich werden könnte?

Das Problem bei der öffentlichen Kommunikation von (Erdbeben-)Risiken ist oft, dass ein entscheidender Faktor unterschlagen wird: Zeit. Kommuniziert man zum Beispiel, dass die Erdbebengefahr an einem Ort „sehr gering“ ist, wie es häufig geschieht, suggeriert dies eine hohe Wahrscheinlichkeit, komplett und dauerhaft von Erdbeben verschont zu bleiben.

„Erdbeben? Hier ist doch keine Plattengrenze!“

1. Bekannte spürbare Erdbeben in Rheinland-Pfalz seit 800 nach Christus (Leydecker-Erdbebenkatalog, modifiziert). Erdbeben ab Intensität 6 (roter Rand) verursachen Gebäudeschäden. Aus früherer Zeit gibt es Aufzeichnungen über noch stärkere Erdbeben, vor allem entlang des Oberrheingrabens zwischen Mainz und Landau. 2. Erdbebenzonen in Deutschland nach DIN 4149:2005-04. Die Einteilung entspricht der zu erwartenden Maximalintensität von Schadenserdbeben mit einer Wiederkehrperiode von 475 Jahren: Zone 0 Intensität 6, Zone 1 Intensität 6.5, Zone 2 Intensität 7 und Zone 3 Intensität 7.5. Außerhalb der Erdbebenzonen: Mit einer Wahrscheinlichkeit von 90% kein Schadenserdbeben innerhalb von 475 Jahren.

Gängige Modelle, die Risiko und Gefährdung einschätzen sollen, sind jedoch auf Zeit ausgelegt.

So sieht das Erdbebengefährdungsmodell des Geoforschungszentrum Potsdam einen Referenzzeitraum von 50 Jahren und berechnet zum Beispiel für Mainz eine Wahrscheinlichkeit von rund 10% für ein Schadenserdbeben in diesem Zeitraum. Anders formuliert ist es zum Beispiel in der Bauvorschrift, wo für den Mainzer Raum eine Wahrscheinlichkeit von 90% innerhalb von 475 Jahren angegeben ist, dass es nicht stärker wird als Intensität 6.5. Was das für das Risiko bedeuten könnte: Gemäß des CEDIM-Modells werden diesem Zeitraum Gebäudeschäden durch Erdbeben in Höhe von bis zu 500 Millionen Euro allein in Mainz erwartet – trotz Bauvorschrift.

Je mehr Zeit vergeht, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit.

Oder anders formuliert: Die Wahrscheinlichkeit eines schweren Erdbebens in Mainz beträgt 100%, sofern Mainz nicht vorher durch Hochwasser, Meteoriteneinschlag oder Krieg vollständig von der Landkarte verschwindet.

Zugegeben: 475 Jahre oder mehr überschreitet ein wenig die Lebenszeit des durchschnittlichen Landtagsabgeordneten. Insofern wäre eine Relativierung der Aussagen zu „geringe Wahrscheinlichkeit, ein solches Erdbeben zu erleben“ gerechtfertigt, sofern man sie auch als solche deutlich macht. Doch welchen Grund hätten Politiker zukünftiger Generationen, zu einer anderen Einschätzung zu kommen? Eine Neuberechnung der Erdbebengefährdungsmodelle durch Einbeziehen von paläoseismologischen Erkenntnissen vielleicht… Unwahrscheinlich.

Funktionieren Erdbebenmelder in Klassenzimmern ohne Luftfilter?

Bleibt noch die Selbsthilfefähigkeit oder auch die „Awareness“ der Bürger. Welche Person in Deutschland, die sich nicht regelmäßig mit dem Thema auseinandersetzt, wüsste die richtigen Verhaltensweisen bei einem Erdbeben? Oder noch präziser: Welche Person hat entsprechende Aufklärungsmaßnahmen erhalten?

Nach meiner persönlichen Erfahrung fehlt oft schon das Wissen, dass schwere Erdbeben in Deutschland eine realistische Gefahr sind. Generelle Formulierungen wie „Erdbeben sind sehr unwahrscheinlich“ ohne auf einen zeitlichen Rahmen einzugehen, tragen zu dieser Falscheinschätzung bei. Durch persönliche Gespräche mit Menschen hier im Aachener Raum (das erdbebengefährdetste Gebiet Deutschlands) musste ich feststellen, dass das Risiko einer nuklearen Katastrophe (Tihange) oder eines Eifel-Vulkanausbruchs als deutlich größer eingeschätzt wird, als das Risiko eines großen Erdbebens.

Auch wenn diese Erfahrung keine statistische Relevanz hat, zeigen jüngste Katastrophen wie im Ahrtal oder Ereignisse wie der Tornado in Paderborn, dass es schon bei wahrscheinlicheren Dingen am Verständnis der Gefährdungssituation mangelt. Es scheint daher äußerst zweifelhaft, dass Menschen in Mainz bei Erdbeben wüssten, wie sie sich am besten schützen könnten. Noch zweifelhafter, ob eine App, die mangels Internetverbindung auch ohne Erdbeben in Wonsheim nicht funktioniert, in einem solchen Fall wirklich viel bringt.

Die Landesregierung schiebt die Verantwortung zu den Gemeinden, zu den Smartphone-Nutzern und zu den wissenschaftlichen Stellen, anstatt dazu beizutragen, dass dieser Verantwortung nachgekommen werden kann. Eine App zu nutzen, sollte nicht über Leben und Tod entscheiden dürfen. Stattdessen wird sogar durch Verharmlosen der Ansatz von Aufklärungswillen unterspült und durch sinnlose Vergleiche mit Brandschutzaufklärungen suggeriert, man würde tatsächlich aktiv werden.

Dass mit Polizei, Bundeswehr, THW, etc. viele Organe für den Katastrophenfall einsetzbar sind, ist gut und wichtig. Aber während und unmittelbar nach einem Erdbeben können diese nichts tun. Auch im Ahrtal, bei einem gut prognostizierten Hochwasser, waren Menschen in der Nacht auf sich alleine gestellt. Viele haben es nicht überlebt.

Wie viele Erdbebenopfer passen in eine Legislaturperiode?

Niemand hat eine Garantie, eine Katastrophe zu überleben. Weder in Mainz, noch in Düsseldorf oder Stuttgart. Doch schon einfache Aufklärungsmaßnahmen, zum Beispiel gezielte Bildung in der Schule oder jährlich stattfindende Übungen, können die Überlebenschance erhöhen. Nicht nur zuhause. Die griechischen und italienischen Behörden würden es uns danken, wenn wir den Risikofaktor „Deutsche Touristen“ reduzieren. Aufklärung und Bildung, die überhaupt erst notwendig wäre, um über Eigenverantwortung zu diskutieren.

Aber eine Politik, die über Generationen Risiken bürokratisiert, Kommunikation verweigert und durch Verharmlosungen und Wissenschaftsignoranz die Tür für Fake News und Verschwörungsdenken öffnet, oder der einfach all das egal ist, verhindert jede Möglichkeit der Eigenverantwortung. Und kostet Menschenleben. Wahrscheinlich nicht unsere Leben. Aber sehr wahrscheinlich die Leben unserer Nachkommen.