Die Erdbebenkatastrophe in Afghanistan

Zum zweiten Mal innerhalb von 16 Monaten kam es in Afghanistan zu einem katastrophalen Erdbeben. Am vergangenen Samstag (7. Oktober) ereignete sich im Nordwesten des Landes nahe der Stadt Herat eine Serie aus vier starken Erdbeben zwischen Magnitude 5.5 und 6.3. Diese Beben ereigneten sich innerhalb von nur einer Stunde und führten zur vollständigen Zerstörung mehrerer Dörfer. Ein neues Erdbeben mit Magnitude 6.3 folgte am heutigen Mittwoch und brachte neue Zerstörung. Über die geologischen Hintergründe der Erdbebenserie, warum eine solch hohe Magnitude für viele Menschen überraschend kam und warum vor allem Männer überlebten.

Grafik 1: Erschütterungskarte des neuen Erdbebens (M6.3) in Afghanistan am 11. Oktober

Die starken Erdbeben am 7. Oktober waren verheerend. Zahlreiche Dörfer mit traditioneller und extrem anfälliger Lehmbauweise wurden durch die wiederholten Erschütterungen vollständig zerstört. Auch in der Großstadt Herat rund 30 Kilometer südöstlich der Epizentrum kam es zu größeren Schäden. Obwohl inzwischen vier Tage vergangen sind, ist die Opferzahl immer noch unklar, da wohl noch viele Menschen unter den Trümmern begraben liegen. Die Chance, noch Überlebende zu finden, ist sehr gering. Zudem fällt die Behördenkommunikation sowie die Identifizierung der Opfer schwer. Nachdem lokale Behörden jüngst von 2600 Todesopfern sprachen und internationale Hilfsorganisationen 1300 Opfer zählten, korrigierte die Taliban-Regierung die Zahl am Mittwoch von ursprünglich 2000 auf rund 1000 Tote deutlich nach unten. Die meisten Todesopfer sind Frauen und Kinder. Das Erdbeben Vormittag überlebten viele Männer, die zu der Zeit unter freiem Himmel arbeiteten.

Erdbeben in Afghanistan oft katastrophal

Unabhängig von der genauen Opferzahl hat sich nach dem neuen Erdbeben am 11. Oktober die Zerstörung weiter verschärft. Das Epizentrum lag östlich der vorherigen Epizentrum und ließ in östlicher gelegenen, zuvor teils verschonten Dörfern, wieder viele Gebäude einstürzen. Erste Schätzungen gehen von tausenden eingestürzten Häusern aus. Neue Bilder aus Sozialen Netzwerken zeigen erneut vollständige Vernichtung von Dörfern. Über die Opferzahl herrscht noch unklarheit. Erste Meldungen gehen von einzelnen Todesopfern und rund 120 Verletzten aus. Aber auch hier wird die Zahl wohl noch steigen.

Warum kam es in Afghanistan zu großen Erdbeben?

Afghanistan liegt wie das Nachbarland Iran im Kollisionsbereich dreier tektonischer Platten: Im Norden die Eurasische Platte, die mit langsamer Geschwindigkeit nach Osten wandert; Im Südosten n der pakistanischen Grenze die Indische Platte, die sich schneller nach Nordosten bewegt und dabei u.a. den Himalaya auftürmt; Die Arabische Platte im Südwesten, die wie die Indische Platte nach Nordosten drückt, allerdings mit geringerer Geschwindigkeit. Erdbeben treten vor allem dort auf, wo die Platten direkt kollidieren oder aneinander vorbei rutschen. Dies ist vor allem im südlichen Bereich der Fall: Ein seismisch sehr aktiver Bogen vom Hindukusch im Nordosten über den Arabischen und Persischen Golf im Süden bis zur Iranisch-Türkischen Grenze im Nordwesten.

Komplexe Tektonik zwischen Eurasien, Arabien und Indien

Doch die Plattenkollision verläuft aufgrund der unterschiedlichen Richtungen und Geschwindigkeiten sowie der Geometrie ungleichmäßig. Dies führt dazu, dass der südliche Bauch der Eurasischen Platte, auf dem der Iran und große Teile Afghanistans liegen, insich nochmal in kleinere Blöcke zerbrochen ist. Im Westen befindet sich der Iranische Block, der sich in nord-nordwestliche Richtung verlagert. Östlich angrenzend, an der Grenze zu Afghanistan, befindet sich der Lut-Block mit einer eher nord-nordöstlichen Bewegung. Komplett auf afghanischem Gebiet liegt im Osten der Helmand-Block (auch Sistan-Block genannt), der angetrieben von der Indischen Platte gegen den Uhrzeigersinn um sich selbst rotiert. Die nördliche Grenze des Helmand-Blocks bildet die Herat-Störung, die von der namensgebenden Stadt im Westen bis zur afghanischen Hauptstadt Kabul verläuft.

Grafik 2: Grobe, schematische Übersicht der tektonischen Situation im Iran und in Afghanistan. Grafil aus: Regard, V. et al. (2005). Cumulative right-lateral fault slip rate across the Zagros—Makran transfer zone: role of the Minab—Zendan fault system in accommodating Arabia—Eurasia convergence in southeast Iran. Geophysical Journal International, 162(1), 177-203.

Die Erdbebenserie in Herat liegt damit genau im Übergangsbereich zwischen der Kollision von Lut und Eurasien sowie der horizontalen Verschiebung zwischen Helmand und Eurasien. Letztere, ausgeprägt entlang der Herat-Störung, ist sehr langsam, sodass dort kaum Erdbeben auftreten. Zudem ist dieser äußerste Zipfel der Kollisionszone von Lut und Eurasien 1. ebenfalls recht lansam und 2. am Übergang zur Herat-Störung über mehrere Störungszonen verteilt. Das heißt im Endeffekt, dass große Erdbeben im Umfeld der Stadt Herat nur sehr selten auftreten und eine lange Wiederkehrperiode haben. Aus historischer Zeit ist nur ein Erdbeben bekannt, das von der Größe vergleichbar mit den aktuellen Erdbeben ist: Im Februar 958. Auch kleinere Erdbeben sind selten: Nur sechs Beben zwischen Magnitude 4 und 5 sind im USGS-Katalog seit 1900 vertreten (siehe Grafik 3).

Langsame tektonische Bewegungen machen starke Erdbeben selten

Nun haben wir es aktuell aber nicht mit einem einzelnen Erdbeben wie im Jahr 958 zu tun, sondern mit einer komplexen Serie aus inzwischen fünf Erdbeben über Magnitude 5.5. In Grafik 3 sind die vom USGS registrierten Erdbeben sowie aktive Störungszonen rund um die Stadt Herat. Auch die historischen Erdbeben seit 1900 sind eingezeichnet. Dabei sind aber folgende Dinge zu berücksichtigen:
1. In der Region gibt es nur sehr wenige seismologische Stationen, sodass die Lokalisierung von aktuellen Erdbeben eine relativ größe Unsicherheit hat.
2. Der Katalog historischer Erdbeben ist aus dem gleichen Grund bei Beben unter Magnitude 5 wohl nicht im Ansatz vollständig.

Grafik 3: Epizentren der Erdbeben (USGS) und aktive Störungen rund um Herat. Störungsdaten: Database of Active Faults of Eurasia and adjacent Aquatories (AFEAD)
Grafik 3: Epizentren der Erdbeben (USGS) und aktive Störungen rund um Herat. Störungsdaten: Database of Active Faults of Eurasia and adjacent Aquatories (AFEAD)

 

Geophysikalische Daten zeigen auf jeden Fall, dass es sich bei den Erdbeben um die Folge von Überschiebungen handelt, also solchen Störungen, die durch eine tektonische Kollision entstehen. Sowohl das westlichste Segment der Herat-Störung im Süden als auch die nördlich verlaufende Siakhubulak-Störung sind von diesem Typ. Die Epizentren liegen aber genau zwischen diesen beiden Störungen, sind also vermutlich an einer bislang unbekannten Störungszone entstanden. Dass man die Existenz einer weiteren Störung zwischen Herat und Siakhubulak zumindest vermuten konnte, zeigen die kleinen kartierten Störungen östlich der Epizentren.

Schlechte seismologische Überwachung erschwert Auswertung

Die ungenauen Lokalisierungen der Epizentren macht nicht nur die Zuordnung zu einzelnen Störungen schwierig, sondern auch die Identifikation der Mechanismen, die aus einem Jahrtausend-Erdbeben eine ganze Erdbebenserie gemacht haben. Wahrscheinlich muss man die Erdbeben am Samstag sowie das am Dienstag separat berachten: Bei den ersten Erdbeben am Samstag brach eine Störung, die seit Jahrhunderten, vielleicht Jahrtausenden, inaktiv war. Aufgrund der komplexen tektonischen Situation mit nur sehr geringen Bewegungsraten hat das erste Erdbeben nicht gereicht, um entlang dieses Störungssegments die gesamte Spannung abzubauen: Ein zweites, drittes und viertes starkes Erdbeben waren nötig und brauchten im bereits vorgeschwächten Gestein nur wenige Minuten.

Dieser Ruck an einem Teil der Störung hat dann den Druck auf ein angrenzendes Störungssegment, möglicherweise auch auf eine angrenzende Störung (Herat?) so stark erhöht, dass es vier Tage später hier erneut mit ähnlicher Stärke bebte. Hier reichte offenbar ein Rutsch, wobei Nachbeben noch folgen werden.

Kettenreaktion an unbekannter Störung

Eine Kettenreaktion in einer seismisch eher ruhigen Region wurde die dritte große Erdbebenkatastrophe des Jahres 2023. Wie schon in Marokko im August war es ein Erdbeben, das seit Jahrtausenden nicht mehr passiert ist. Doch anders als in Marokko ließ die Region um Herat bereits in den vergangenen Jahren aufhorchen: Im April 2017 traf ein Beben der Stärke 6.1 gefolgt von intensiver Nachbebenaktivität die nur 150 Kilometer entfernte iranische Grenzstadt Torbat-e Jam. Ein Mensch kam ums Leben, tausende Häuser wurden zerstört. Im Januar 2022 starben Elf Menschen, als zwei Erdbeben der Stärke 4.9 und 5.3 in der afghanischen Region Badghis mehrere Dörfer vollständig zerstörten, ebenfalls nur 150 Kilometer von Herat entfernt. Fünf Monate früher im August 2021 traf es Herat selbst. Doch dieses Erdbeben mit Magnitude 4.5 blieb folgenlos.

Warnzeichen, dass die seit Jahrhunderten ruhende Erdbebenaktivität im Nordwesten Afghanistans keine Garantie für die Zukunft ist. Doch das Verhindern einer Katastrophe war nicht möglich. Eine komplexe tektonische Situation traf auf eine extrem vulnerable und unvorbereitete Bevölkerung und einen dysfunktionalen Bevölkerungsschutz. Menschen starben in ihren Häusern, die wie Kartenhäuser zusammenstürzten. Mit den wiederholten Erdbeben sind die Überlebenden zudem einer massiven psychischen Belastung ausgesetzt. Die Angst vor einem weiteren Erdbeben ist seit heute größer denn je. Und das ganze Ausmaß der Katastrophe wird, wenn überhaupt, im Laufe der nächsten Wochen klar werden.