Japan hat es schon lange. Mexiko, China und Kalifornien haben funktionierende Systeme. Andere Länder arbeiten dran. Wenn es nach den Plänen von Google geht, könnte schon bald ein weltweites Erdbebenfrühwarnsystem bestehen. Nutzbringer: Android-Smartphones. Eingebaute Beschleunigungsmesser, die in jedem Smartphone zu finden sind, könnten als tragbare Mini-Seismometer fungieren und so die Bewegungen eines Erdbebens registrieren und Warnungen an andere Nutzer schicken. Wie effizient könnte ein solches Android-Frühwarnsystem sein und wer wären die Profiteure? 

ShakeAlert heißt das Erdbebenfrühwarnsystem, das vor einigen Monaten in Kalifornien an den Start gegangen ist. Ziel dieses Projekts, das von zahlreichen US Behörden finanziert wurde, ist eine rechtzeitige Warnung an Städte in Kalifornien vor großen Erdbeben. Durch zahlreiche im Bundesstaat installierte Seismometer können die seismischen Wellen eines starken Erdbebens registriert werden, bevor sie Städte wie Los Angeles, San Diego oder San Francisco erreichen. Über ein automatisches System wird innerhalb weniger Sekunden die Stärke des Erdbebens und die möglichen Auswirkungen berechnet und allen Nutzern der App im Gefahrenbereich eine Nachricht geschickt. Dies ermöglicht im besten Fall 30 oder mehr Sekunden Frühwarnzeit, in der sich Menschen in Sicherheit bringen können. Ein System, das in Japan und Mexiko bereits seit Jahren funktioniert, wenn auch nicht ganz fehlerfrei.

Google hat nun am Dienstag in einem Blogbeitrag angekündigt, mit seinen Android-Smartphones dieses Frühwarnsystem unterstützen zu wollen. Mehr noch: Mittelfristig soll allen Android-Nutzern weltweit Erdbebenfrühwarnungen geliefert werden.
So möchte Google seinen Nutzern in Kalifornien zunächst direkt Warnungen aufs Smartphone liefern, die vom staatlichen Frühwarnsystem ausgesendet wurden. Dazu sei dann keine App mehr nötig. Zudem werden entsprechende Hinweise in der Google-Suche angezeigt. Doch Android-Smartphones bieten laut Google noch mehr Potential: Der in jedem Smartphone eingebaute Beschleunigungsmesser könne ebenfalls zu einem Frühwarnsystem beitragen. Ein Mini-Seismometer für die Hosentasche, ohne zusätzliche Kosten. Dies soll dafür genutzt werden, weltweit Erdbeben zu registrieren, über einen Google-Server Stärke und Intensität zu berechnen und dann gezielte Warnungen an alle Nutzer im Gefahrenbereich auszusenden.

Doch bereits jetzt könnten alle Nutzer weltweit profitieren: Mithilfe der Beschleunigungsmesser und dem Suchverhalten der Nutzer möchte Google einen ersten Schritt in Richtung Erdbebenregistrierung machen und in der Google-Suche frühzeitige Informationen über spürbare Erdbeben liefern. In Zusammenarbeit mit dem United States Geological Survey (USGS) und weiteren staatlichen Erdbebendiensten weltweit soll dieses Schnellinformationssytem ausgebaut werden.

Erdbebenfrühwarnung für jeden? Kommentar:

Eine innovative Idee, die praktischen Nutzen hat und weltweit den Ausbau von Erdbebenfrühwarnsystemen vereinfachen kann – ein nutzbares Mobilfunknetz vorausgesetzt! Viele Länder wie Indien, Iran oder Indonesien, die von schweren Erdbeben betroffen sind und häufig hunderte Todesopfer zu beklagen haben, wären die klaren Profiteure: Ein staatliches seismologisches Netzwerk ist sehr teuer, wenn man es für ein Frühwarnsystem perfektionieren möchte. Indien zum Beispiel verfügt aufgrund der Kernwaffentest-Vergangenheit über kein dichtes Netz. Städte wie Delhi, Lakhnau oder Patna hingegen wären aufgrund ihrer Lage prädestiniert für Erdbebenfrühwarnsysteme, da die Entfernung zum Himalaya, wo Beben über Stärke 8 eine immense Bedrohung darstellen, für eine nützliche Vorwarnzeit sorgen könnten. Zudem gibt es im Land rund 700 Millionen Smartphone-Nutzer und somit ein dichtes Netz an Mini-Seismometern.

In den meisten Regionen der Welt ist ein Erdbebenfrühwarnsystem jedoch mehr oder weniger nutzlos, unter anderem in Deutschland. Grund dafür ist nicht, dass schwere Erdbeben so selten sind (was jedoch ein gutes Argument gegen ein teures, staatliches Netz wäre), sondern weil Erdbeben nicht so stark werden, dass eine Frühwarnzeit für bedrohte Gebiete gegeben sein kann.
Beispiel Niederrhein: Erdbeben bis Stärke 7 sind hier möglich, daran besteht kein Zweifel. Mit Städten wie Köln, Düsseldorf und Aachen gibt es zudem viele Menschen im Gefahrenbereich. Doch liegen zwischen Ballungszentrum und potentiellem Epizentrum kaum mehr als 50 Kilometer.

Für Köln würde, bei einem schweren Erdbeben am Erftsprung, die mögliche Frühwarnzeit maximal drei Sekunden betragen. Also die Zeit, die die Erdbebenwellen bis zur Stadt brauchen. Für Aachen und Düsseldorf sind es vielleicht 10 Sekunden. Davon müssen jedoch noch die Sekunden abgezogen werden, die der Server zum Verarbeiten der Daten benötigt. Nutzbare Zeit bleibt also nicht mehr übrig.
Das Ruhrgebiet und andere weiter entfernte Orte hätten mehr Frühwarnzeit, doch ist hier die Entfernung zum Epizentrum inzwischen so groß, dass zumindest keine schweren Schäden mehr wahrscheinlich sind, akute lebensbedrohliche Situationen also kaum noch vorhanden wären.

Zudem benötigt man für den Nutzen eines Frühwarnsystems eine gewisse Kompetenz der Empfänger. Menschen müssen wissen, wie sie mit einer Frühwarnung umzugehen haben. In Japan und Kalifornien kein Problem, da hier schon in der Grundschule umfassend über Erdbeben aufgeklärt wird. Anders ist dies in Deutschland, wo immer noch ein Großteil der Bevölkerung denkt, dass schwere Erdbeben nicht möglich und spürbare Erdbeben extrem selten sind. Wie würden also die Einwohner von Dortmund reagieren, wenn sie von ihrem Smartphone benachrichtigt werden, dass es soeben ein Erdbeben der Stärke 7 in Köln gegeben hat und dieses die in 7, 6, 5… Sekunden Dortmund erreicht?

Viele wüssten wahrscheinlich garnicht, wie sie reagieren sollten, selbst wenn Google seine Warnungen mit Verhaltenstipps versendet. Einfach aufgrund fehlender Erfahrungen. Der hier in Deutschland häufige falsche Umgang mit Unwetterwarnungen kann eine gute Analogie sein. Andere, und das ist wahrscheinlich die größte Gefahr, würden vermutlich in Panik geraten und sich dabei selbst grundlos in gefährliche Situationen bringen. Man stelle sich zudem eine Nachbebenserie vor, bei der alle paar Minuten eine Warnung reinkommt. Dies dürfte eine enorme psychische Belastung darstellen.

Es ist also fraglich, ob ein Erdbebenfrühwarnsystem in Deutschland wirklich mehr Nutzen als Schaden bringt – zumindest unter den aktuell gegebenen Umständen. Deutlich positiver anzusehen ist hingegen die Ankündigung, zusätzlich über die Google-Suche in Echtzeit Daten des Android-Netzes bereitzustellen. Das ermöglicht Nutzern sehr schnellen Zugriff auf die wichtigsten Daten, erschwert die Verbreitung von Falschmeldung und entlastet zudem die Notrufe, die gerade in Ländern mit eher niedriger Erdbebenaktivität mit zahlreichen besorgten Anrufern überfordert sind. Doch auch hier ist der Nutzen in Deutschland zunächst geringer als in anderen Ländern:

Bei einer möglichen Zusammenarbeit mit staatlichen Erdbebendiensten, die die wichtigsten Bebenparameter liefern, würde in den USA oder in Japan binnen Minuten zu jedem spürbaren Beben alles wichtige bereit stehen. In Deutschland, wo kein Erdbebendienst 24/7 arbeitet, würden diese Daten gerade am Wochenende und nachts längere Zeit ausbleiben. Google würde sich hier als der schnelle Erdbebendienst erweisen können und die Landesbehörden möglicherweise unter Druck setzen. Da es sich, zumindest für die Erdbebendienste, nicht um eine kommerzielle Angelegenheit handelt, wäre dies auf dem Papier erstmal weniger problematisch. Kritischer könnte hingegen werden, wenn Google anfangen würde, Erdbeben zu lokalisieren und auszuwerten. Ob die Aufzeichnungen von Smartphones dazu ausreichen, muss sich noch zeigen. Falls dem so ist, könnten besonders diese Regionen profitieren, die im Moment von den globalen Netzen nicht erfasst werden – einen wissenschaftlichen Nutzen vorausgesetzt.

Falsche Daten, zum Beispiel durch Transport eines Smartphones während eines Bebens oder auch mögliche Falschdetektionen (zum Beispiel durch Überschallknall oder Sprengungen) stellen für Google eine zusätzliche Hürde dar. Es bleibt abzuwarten, wie das Unternehmen mit diesen Fehlerquellen umgehen wird. Unterm Strich kann man die Google-Pläne jedoch positiv bewerten, da zumindest auf globaler Ebene ein großer Nutzen besteht. Eine Warnung für jeden und eine massive Reduzierung von Opferzahlen wird das Frühwarnsystem aufgrund der unterschiedlichen regionalen Anwendbarkeit jedoch nicht bringen. Zudem wird dies ohne intensive Zusammenarbeit mit lokalen Behörden nicht voll ausnutzbar sein, auch wegen der wissenschaftliche Aspekte der Daten. Ob und wie in den jeweiligen Ländern damit umgegangen wird und mögliche Nachteile berücksichtigt werden, bleibt abzuwarten. Für Google wird sich dieses System auf jeden Fall auszahlen, da nach jedem großen Erdbeben weltweit nun wahrscheinlich die Nachfrage nach dem (vermeintlichen) Lebensretter Android-Smartphone steigt.