Dass Naturereignisse aller Art in der heutigen Zeit nur selten in angemessener Weise betrachtet werden, ist nichts Neues. Kommt ein verfrühter, wenngleich relativ schwacher, Herbststurm nach Europa, wird er schnell zu einem Monstersturm hochstilisiert, während katastrophale Wirbelstürme in Nicaragua und auf dem Philippinen irgendwo in den Randnotizen verschwinden. Trifft ein starkes aber harmloses Erdbeben Japan, wird es gleich zu einem Megabeben, während ein ähnlich starkes aber deutlich verheerenderes Beben in China meist in der westlichen Welt kaum wahrgenommen wird.
Kommen mehrere Katastrophen zusammen, scheint auch bei der Dramatisierung ein exponentieller Anstieg vorzuliegen.
2020, das Jahr mit Corona, hat für viele Menschen in Deutschland einen negativen Verlauf genommen. Lockdown, Quarantäne, Jobverlust oder schlimmeres. Dazu die ständige Unsicherheit gepaart mit Zwangslangeweile und Einsamkeit, die viele Menschen an den Rand der psychischen Belastungsfähigkeit bringen sowie katastrophale Brände in Kalifornien und Moria und die Explosion in Beirut. 2020, das Jahr der schlechten Nachrichten. Das Jahr, in dem wirklich alles schief läuft. So die Ansicht vieler Menschen. Zu all dem Unglück, das uns ein Virus bringt, gesellte sich vergangene Meldung noch die „Schreckensmeldung“ vom tödlichen Erdbeben mit Tsunami in der Ägäis. Von Empathie („Das AUCH noch!“) bis Zynismus („Was sollte man in diesem Jahr auch anderes erwarten?“) waren die Reaktionen vielfältig.
Was oft eine generelle Überstilisierung einer Katastrophe und ihrer Folgen war, wird 2020 zu einer Überstilisierung ihrer Bedeutung im globalen Kontext. Früher ein einzelnes, mehr oder weniger wirklich schreckliches, Ereignis. 2020 ein „Passt-ja-in-die-Situation“-Ereignis, dessen Relevanz durch die Jahreszahl definiert wird.
116 Tote, 114 in der Türkei, 2 in Griechenland. So die finale Bilanz des Ägäis-Erdbebens, nachdem am Mittwoch die Such- und Rettungsarbeiten in Izmir beendet wurden. Eine Katastrophe für die Menschen vor Ort, sicher erschwert durch die Corona-Pandemie und die nötigen Hygienemaßnahmen. Lässt man Emotionen außen vor, ignoriert das bisherige Geschehen des Jahres und betrachtet einfach nur die Zahlen, kommt man aber auf ein ähnliches Fazit wie manche Social Media Nutzer, nur mit anderer Bedeutung: „Was sollte man in diesem Jahr auch anderes erwarten?“
Ohne die Opferzahl, die Katastrophe klein reden zu wollen: Ein Jahr, in dem das tödlichste Erdbeben 116 Opfer fordert, ist ein wirklich sehr gutes. Ein harmloses. Ein Glücksjahr. Schaut man alleine aufs 21. Jahrhundert, sind Jahre mit weniger als 1000 Erdbebentoten selten. Jahre mit weniger als 100 Opfern, was bis vor ein paar Tagen auch 2020 gewesen ist, sind zumindest in diesem Jahrtausend bisher nur eine Utopie.
Jahr | Erdbebenopfer gesamt | Tödlichstes Beben (Ort, Stärke, Opferzahl) |
2000 | 222 Tote | Indonesien, M7.9, 103 Tote |
2001 | ~21.000 Tote | Indien, M7.7, ~20.000 Tote |
2002 | ~1600 Tote | Afghanistan, M6.0, ~1000 Tote |
2003 | ~33.000 Tote | Iran, M6.6, ~31.000 Tote |
2004 | ~230.000 Tote | Indonesien, M9.3, ~230.000 Tote |
2005 | ~80.000 Tote | Pakistan, M7.6, ~ 76.000 Tote |
2006 | ~6000 Tote | Indonesien, M6.3, 5649 Tote |
2007 | 708 Tote | Peru, M8.0, 514 Tote |
2008 | ~88.000 Tote | China, M7.8, 87.652 Tote |
2009 | 1785 Tote | Indonesien, M7.5, 1117 Tote |
2010 | ~93.000 Tote | Haiti, M7.0, ~90.000 Tote |
2011 | ~19.500 Tote | Japan, M9.1, 18.431 Tote |
2012 | 651 Tote | Iran, M6.3, 306 Tote |
2013 | 1192 Tote | Pakistan, M7.7, 386 Tote |
2014 | 824 Tote | China, M6.5, 729 Tote |
2015 | 9856 Tote | Nepal, M7.8, 9124 Tote |
2016 | 1406 Tote | Ecuador, M7.8, 672 Tote |
2017 | 1197 Tote | Iran, M7.3, 629 Tote |
2018 | 5219 Tote | Indonesien, M7.5, 4340 Tote |
2019 | 293 Tote | Albanien, M6.4, 52 Tote |
2020 | 199 Tote* | Türkei, M7.0, 116 Tote* |
2020 ist bisher das Jahr des 21. Jahrhunderts mit der niedrigsten Opferzahl und, nach 2019 und 2000, das Jahr mit der drittgeringsten Opferzahl des tödlichsten Erdbebens. Jahre mit katastrophalen Erdbeben, die tausende Opfer fordern, sind leider keine Ausnahme, sondern die Regel. 2020 (und auch 2019) sind bisher große Ausnahmen, da die Opferzahlen weit unter denen der früheren Jahre liegen. Eindrücke, 2020 würde mit dem Ägäis-Erdbeben nahtlos ins für viele Menschen katastrophale Jahr 2020 passen, sind somit falsch. Realität ist das komplette Gegenteil. 2020 ist bisher kein Erdbebenkatastrophenjahr.
Da es naturgemäß oft schwierig ist, die tatsächliche Relevanz einer Katastrophe, gemessen an ihrer Häufigkeit und ihren Auswirkungen im Vergleich zu früheren Ereignissen nur anhand von Medienberichten einzuordnen, entsteht in diesem Jahr der subjektive Eindruck eines Katastrophenjahres. Hört man von einer Katastrophe, bestätigt man damit automatisch seinen eigenen Eindruck, bzw. seine eigenen Erlebnisse und festigt diesen sofort. Vor allem, wenn sie von tausenden anderen Nutzer Sozialer Medien geteilt werden. Tatsächlich sind es nicht nur Erdbeben, bei denen 2020 kein Katastrophenjahr ist. Alle Naturkatastrophen 2020 fielen bislang vergleichsweise mild aus. Kein Wirbelsturm mit tausenden Opfern, kein großer Tsunami, kein großer Vulkanausbruch. Corona dominiert zur Zeit alles: Die Nachrichten, den Alltag und auch die weltweiten Katastrophenstatistiken.
Natürlich ist dies nur eine Momentaufnahme. Katastrophale Erdbeben mit tausenden Toten, einen gewaltigen Tsunami oder verheerende Bergstürze kann es jederzeit geben. Auch die Taifunsaison ist noch im Hochbetrieb und vom Jahr verbleiben noch fast zwei Monate. Zwei Monate Zeit, um 2020 wirklich zu einem Katastrophenjahr zu machen. Oder zwei Monate, in denen 2020 leise still und heimlich zum harmlosesten Erdbebenjahr seit Jahrzehnten wird.