Das Erdbeben am Samstagabend (M4.7) am Oberrhein hat nicht nur Millionen Menschen einen Schreck eingejagt, sondern auch für viel Betrieb auf Erdbebennews gesorgt. Mehr als 1000 Personen sendeten uns ihre Wahrnehmungsmeldungen ein, viele beschrieben detailliert, wie sie während des Erdbebens reagiert haben. Neben nützlichen Daten zur Einschätzung der Erdbebenstärke, liefern diese Beschreibungen auch Informationen darüber, wie gut Deutschlands erdbebengefährdetste Region tatsächlich auf ein Erdbeben vorbereitet ist. Das Ergebnis: Ernüchternd. Manche Menschen haben nicht nur unvernünftig reagiert, sie hätten sich sogar, wäre das Erdbeben stärker gewesen, in Lebensgefahr gebracht. Eine Übersicht.

Hinweis: Alle hier verwendeten Zeugenmeldungen sind anonymisiert. Zitate sind, mit Ausnahme korrigierter Rechtschreibfehler, unverfälscht. Diese Zusammenstellung soll keine Personen wegen ihres Verhaltens bloßstellen oder verurteilen, sondern beispielhaft auf Fehler aufmerksam machen, damit andere diese im Ernstfall nicht nachmachen.

Ein Erdbeben ist für viele Menschen eine ungewohnte Situation. Selbst am Oberrheingraben waren diese zuletzt nicht so häufig, dass man von Routine sprechen kann. Gleichzeitig gibt es in Deutschland keine strukturellen Erdbebenübungen. Weder in Schulen noch Unternehmen werden diese routinemäßig durchgeführt. Geraten Menschen aus Deutschland in die Situation eines Erdbebens, fehlt also das einstudierte Wissen, das Richtige zu tun. Stattdessen reagieren Menschen aus der Emotion heraus oder so, wie sie es in vergleichbaren Situationen tun würden. Das kann sich oft als großer Fehler herausstellen.

 

Der vermeintlich sichere Türrahmen

10.09.2022, gegen 18.00 Uhr
Erst ein Grollen, Beben, das immer mehr wurde, dann ist das ganze Haus wie ein Schiff hin und her geschaukelt. Dachte das Haus stürzt gleich ein. Habe mich schnell unter den Türrahmen gestellt, falls das Haus einstürzt.

17.58Uhr
Kurzes, wenige Sekunden andauerndes lautes Rumpeln, Rollen und Erschütterungen. Gefühlt wie
in einer Kegelbahn. Bin instinktiv mal unter den Türrahmen „geflüchtet“.

Wo ist man sicher, wenn das Haus einstürzen könnte? Ein weit verbreiteter Mythos ist dabei der vermeintlich sichere Türrahmen. Wenn die Decke einstürzt und Wände umkippen, bleibt das schützende Rechteck stehen, während alles drum herum landet. So die Theorie. In der Praxis ist dies, zumindest bei typischen Gebäuden in Deutschland, ein grober Irrtum.
Statt eines stabilen Konstruktes sind die meisten Türrahmen dünn verkleidete Löcher in Mauern, die keine Stabilität aufweisen oder im Zweifel noch instabiler, da sich oberhalb einfacher Teile aus der Mauer lösen können.

Sichere Alternativen sind stabile Möbelstücke, vor allem große Tische, unter denen man Schutz suchen kann. Auch tragende Wände können im Falle eines Gebäudeeinsturzes stehen bleiben und so schützende Hohlräume bilden, in denen man ausharren kann. Wichtig ist in jedem Fall: Kopf zusätzliches mit den Armen schützen. Auch kleine Trümmer können schwere Verletzungen verursachen.

Erdbebenzonen in Deutschland
Die Erdbebenzonenkarte zeigt, wo in Deutschland das Erdbebenrisiko am höchsten ist und wo Bauvorschriften gelten. Doch nicht nur Gebäude sollten sicher sein: Falsches Verhalten bei starken Erdbeben kann auch Menschenleben gefährden.

Der Blick aus dem Fenster

10. September 2022 17.50 h
3 sec. Dauer, spürbare Erschütterung, Nachbarn liefen verunsichert zum Fenster.

Wenn man nicht weiß, wie man reagieren soll, ist es verlockend zu schauen, was die Nachbarn machen. Doch Fenster und andere Glasflächen sind (nicht nur) bei Erdbeben sehr zerbrechliche Objekte. Ob diese möglicherweise durch das Erdbeben bereits gerissen sind, sich gelockert haben oder bei Nachbeben direkt zerspringen, ist nicht offensichtlich. Durch herabstürzendes Glas besteht Verletzungsgefahr, gerade wenn hektische Bewegungen hinzukommen. Bei und unmittelbar nach Erdbeben sollte man daher Fenster, Glastüren, etc. so gut es geht meiden oder zumindest erst auf mögliche Beschädigungen überprüfen.

Auf den Balkon

10.09.2022; ca. 18 Uhr
Lautes Poltern im Dachgeschoss wahrgenommen – später bemerkt, dass im Flur ein Bild
runtergefallen ist, das auf einem Balken stand und an die Wand angelehnt war. Außerdem ist wohl
ein kleines Holzbrett vom Dach weiter runter auf einen Vorsprung gefallen.
Nachbarn kamen auch auf den Balkon und haben das Wackeln auch wahrgenommen.

Ebenso sieht es mit dem Balkon aus. Diese gehören bei vielen Häusern zu den nicht strukturellen Gebäudeteilen, die auch bei weniger starken Erdbeben Schäden erleiden können. Diese Schäden sind nicht unbedingt auf den ersten Blick erkennbar und können im schlimmsten Fall zum Einsturz führen. Menschen, die sich auf dem Balkon aufhalten, können in die Tiefe stürzen. Gerade unmittelbar nach einem Erdbeben, wo eine erhöhte Wahrscheinlichkeit weiterer Beben besteht, ist dies riskant.

Die gefährliche Flucht aus dem Haus

17:56
Im Schrank haben die Gläser geklirrt, Vibration über den Fußboden spürbar, meine Frau ist gleich
raus in den Garten, Ich habe draussen akustisch ein Grummeln wie bei einem Gewitter gehört.

18:07
Kurzes Erdbeben ca. 5-8sec spürbar. Klirrende Türglasscheiben und wackelnde Möbel. Nachbarn
sind auf die Straße gelaufen.

Einstürzende Balkone, zerbrechende Fenster und herabstürzende Mauerteile sind nicht nur für Menschen innerhalb der Räume gefährlich. Besonders außerhalb des Hauses, wo sich die meisten nicht strukturellen Elemente befinden, kann es bei starken Erdbeben einen wahren Trümmerregen geben. Daher ist es während eines Erdbebens, so absurd es klingt, oft sicherer als draußen. Eine hektische Flucht nach draußen erhöht die Wahrscheinlichkeit, von Trümmern getroffen zu werden. Gleichzeitig besteht durch Stürze und möglichen Kollisionen mit Menschen oder Fahrzeugen erhöhtes Verletzungsrisiko. Die Flucht nach draußen sollte also der letzte Ausweg sein oder nur erfolgen, wenn man sich unmittelbar neben einer Tür befindet und schnell genug Abstand zum Haus gewinnen kann.

Nach einem Erdbeben, wenn die akute Gefahr vorbei ist, sieht die Situation anders aus. Bei bereits von innen erkennbaren strukturellen Schäden, sollte ein Gebäude evakuiert werden, bis ein Experte die Schadenslage begutachtet hat. Zudem sollten Hausbesitzer die Außenfassaden sowie alle Leitungen auf Schäden überprüfen.

 

Erdbeben wie am Samstagabend sind hierzulande glücklicherweise eine Ausnahmesituation. Allerdings sind sie bei weitem kein oberes Limit. Größer und gefährlicher geht immer, auch wenn nicht jede Generation betroffen ist. Sich auf den Ernstfall vorzubereiten, und sei es nur richtige Abläufe einzustudieren, kann Leben retten. Vor allem kann Vorbereitung Panik vermeiden und rationale Entscheidungen ermöglichen. Vergleichsweise kleine Erdbeben wie aktuell sollten also als Stresstest gesehen werden: Hält mein Haus das problemlos aus? Weiß meine Familie, wie sie sich bei einem Erdbeben verhalten muss? Kann ich mich selbst schützen? Der gestrige Tag hat gezeigt: Viele wissen dies nicht und sind sich dessen nicht einmal bewusst.

Dank Erdbebenfrühwarnsystem, Bauvorschriften und schneller Information sind in Deutschland inzwischen die Voraussetzungen geschaffen, ein schweres Erdbeben überleben zu können. Doch theoretisch funktioniert dies alles nur, wenn eine praktische Umsetzung erfolgen kann. Wenn Leute wissen, wie sie auf Warnungen reagieren sollen. Wie sie sich nicht in Gefahr bringen. Und wie sie nach einem schweren Erdbeben sich selbst und anderen helfen können. Um diesen Status zu erreichen, benötigt es mehr Aufklärungsarbeit. Das nächste Erdbeben kommt bestimmt.

3 thoughts on “Oberrhein-Erdbeben: Wie falsches Verhalten Leben gefährdet

  1. @achduliebeheimat Das heisst aber auch, dass man einiges an theoretischem Hintergrund und praktischer handwerklicher Übung haben muss, um den Zustand bzw. die Eigenschaften einer Wand oder eines Möbelstückes einschätzen zu können. Wer hat das? Und, wer denkt sofort an ein Erdbeben? Ich habe das Roermond Erdbeben 1992 mitbekommen, aber im Halbschlaf an alles Mögliche gedacht, z.B. einen Gewittersturm, der am Dachgebälk rüttelt, und nicht an ein Gewitter.

  2. Ich denke die Sache mit dem Türrahmen muss man differenziert sehen: Altbau oder Neubau. In älteren Gebäuden sind die Mauern massiver und meistens ist ein Türsturz verbaut, der stabilisiert. In neueren Gebäuden sieht es dagegen oftmals anders aus und in Fertighäusern kracht sowieso alles zusammen. Dasselbe gilt wohl auch für die Empfehlung, sich unter einem Tisch in Schutz zu bringen. Das muss schon ein massiver Tisch sein und weniger einer von Ikea 😉

  3. 79426 starkes grollen danach hat ziemlich alles vibriert. Da wir ebenerdig wohnen und vor uns eine sehr große Wiese ist, sind wir nach draußen gegangen und haben erst mal abgewartet

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