Spätestens seit gestern wissen wir wieder, warum der Oberrheingraben als Deutschlands aktivste Erdbebenregion gilt. Magnitude 4.7, Schäden an Gebäuden, Nachbeben, über 250 Kilometer weit verspürt. Ein Erdbeben, wie man es als Bewohner der deutsch-französischen Grenzregion erwartet. Oder irgendwie auch nicht. Denn in den letzten Jahrhunderten hat sich der Oberrheingraben eher zurückhaltend gezeigt. Mal Magnitude 2, mal Magnitude 3. Größere Beben gab es zuletzt lediglich an einem Geothermie-Kraftwerk bei Straßburg. Dass es auch ohne menschlichen Einfluss geht, wurde von einigen schon vergessen. Ein Fehler, denn das Potential der 300 Kilometer langen Bruchzone ist noch deutlich größer. Eine Zusammenfassung des gestrigen Erdbebens mit Einordnung in den geologischen Kontext.

Erdbebenzonen und historische Erdbeben in Deutschland

Magnitude 4,7 (ML, Richter), bzw. 3.8 (Mw), so die Auswertung des Erdbebens am Samstagabend, das sein Epizentrum im französischen Sierentz nahe der deutschen Grenze hatte. Zwei unterschiedliche Skalen und doch eindeutig: Das Beben war stärker als alles, was in den letzten Jahren passiert ist. Für Deutschland und angrenzende Gebiete war es das stärkste seit 2004, für den Oberrheingraben sogar das stärkste seit 1980. Damals kam es, wie ebenfalls ebenfalls der Zufall so will, zu einem Erdbeben mit ML 4.7, im französischen Ort Sierentz. Den Unterschied macht Mw, mit 4,5 deutlich höher, und dementsprechend auch höhere Intensität (VII) mit mehr Schäden.

Weil am Rhein
10.09.22, 18 Uhr
Der Boden und das Haus haben stark vibriert und es gab ein lautes Rumpeln. Im 1. Stock gibt es Risse im Putz am Fenster. Die Nachbarschaft hat es auch bemerkt.

(Intensität V)

Das 42 Jahre jüngere Schwesterbeben verursachte auch Schäden: Aus deutschen Orten liegen uns 13 Meldungen über Risse in Wänden vor. Betroffen ist vor allem die Region um Müllheim . Französische Medien melden ebenfalls rissige Gebäude, vor allem aus Mülhausen. Selbst in der Schweiz waren wohl noch Gebäude betroffen. Ein Schadensausmaß, wie man es erwarten kann. Schlimmeres verhinderten auch die strengen Bauvorschriften, die lange Zeit die einzige Erinnerung an die Erdbebenregion waren.

40 Schadenserdbeben am Oberrhein

Dabei sollte die Geschichte Erinnerung genug sein. Mehr als 40 Schadenserdbeben mit Intensität VI oder höher sind aus historischer Zeit im Oberrheingraben bekannt, dazu eine vermutete Dunkelziffer im Mittelalter. Darunter lokal schwere Schäden wie 1728 in Rastatt und 1952 im französisch angrenzenden Seltz. Auch das Sierentz-Erdbeben 1980 fällt in diese Kategorie. Während angrenzende Regionen wie der Schwarzwald (2004 Waldkirch), die Vogesen (2003 Drôme-Ardèche) und vor allem die Albstadt Scherzone (2022 Hechingen) in der Zeit Quelle stärkerer Erdbeben waren, blieb der Oberrheingraben relativ ruhig.

Müllheim
10.09.2022, gegen 18.00 Uhr
Erst ein grollen, beben, das immer mehr wurde, dann ist das ganze Haus wie ein Schiff hin und her geschaukelt. Dachte das Haus stürzt gleich ein. Habe mich schnell unter den Türrahmen gestellt, falls das Haus einstürzt.
Risse im Mauerwerk.

(Intensität V – VI)

  • Anmerkung: Der Türrahmen ist bei einem Erdbeben kein sicherer Ort, das ist nur ein Mythos. Sicher ist: Unter einem schweren und stabilen Tisch Schutz suchen und Kopf mit Armen bedecken.

Tektonisch ist er es (zumindest langfristig) nicht. Während es ursprünglich tatsächlich ein Graben war, der während der Alpenauffaltung entstand, hat sich der Bewegungssinn im Laufe der Jahrmillionen gewandelt. Von einer ursprünglichen Krustendehnung, die das heute noch prominente, tief eingeschnittene Tal erschuf, wurde es zu einer horizontalen Verschiebung. Die Hauptrandstörungen und viele kleine Störungen innerhalb des Grabens blieben aktiv, nur ihr Bewegungssinn änderte sich. Statt der stetigen Trennung von Deutschland und Frankreich rutscht Frankreich nun mit wenigen Millimetern pro Jahrzehnt nach Süden und Deutschland nach Norden. Ein ähnlicher Bewegungssinn wie an der Albstadt-Scherzone und großflächiger zwischen Kraichgau und Bodensee.

Erdbeben bis Magnitude 7 möglich

Den gleichen Mechanismus zeigte auch das Erdbeben am Samstagabend, wo sich auf einer Länge von etwas unter einem Kilometer die Gesteinsmassen um wenige Millimeter verschoben haben. Ein Mini-Rutscher, der zwar noch im 250 km entfernten Mainz die Zimmerpflanzen wackeln lies, aber nicht die gesamte tektonische Bewegung der letzten Jahrzehnte ausgleicht. Gemäß des Gutenberg-Richter Gesetzes gibt es ungefähr 10x mehr Erdbeben der Stärke 3 als Erdbeben der Stärke 4, 10x mehr Stärke 4 als Stärke 5, usw. Damit kleine Erdbeben aber tatsächlich die ganze Energie der tektonischen Bewegung ausgleichen, müsste dieser Faktor bei etwa 31 liegen.

Emmendingen
10.09.2022 17.58
Lauter Knall, Wind, Wackeln von Boden Tisch, Gläsern Erweiterung von Riss in der Wand

(Intensität V)

Der Unterschied zwischen Faktor 10 und Faktor 31 bedeutet, dass durch die stetige Bewegung eine enorme Restspannung übrig bleibt. Restspannung, die sich früher oder später durch schwere Erdbeben entladen wird. Spuren vergangener Erdbeben der Stärke 6.5 sind vielerorts im Oberrhein zu finden, große Abschnitte des Grabens sind bezüglich prähistorischer Erdbeben aber noch weitestgehend unerforscht. Bisherige Forschungsergebnisse lassen auf eine Wiederkehrperiode solcher Erdbeben von rund 2000 Jahren schließen. Durch die großen Datenlücken könnte es auch deutlich geringer sein. Sicher ist nur: Seit mindestens 1081, damals mutmaßlich im Raum Speyer, blieb ein solches Erdbeben aus und auch letzteres steht noch zur Debatte.

Südlicher Oberrheingraben besonders gefährdet

Wann es im südlichen Oberrheingraben zuletzt so mächtig bebte, ist unklar. Entsprechende Forschungen laufen. Doch das nun nach 42 Jahren wiederholte Erdbeben in Sierentz und auch andere starke Erdbeben in historischer Zeit wie 1372 und 1784 verraten das Potential. Nicht nur der Graben selbst, sondern auch angrenzende Gebiete von Schwarzwald, Vogesen und auch der Raum Basel mit dem großen Erdbeben 1356 sind seismisch aktiv. In der Karte der Erdbebengefährdung gehört der Graben südlich von Freiburg mit dem Raum Aachen und dem Zollernalbkreis zur erdbebengefährdetsten Region Deutschlands. Eine Warnung, die aktuelle und zukünftige Bewohner ernst nehmen sollten.

Szenario: Schweres Erdbeben am Oberrhein
Szenario: Mögliche Auswirkungen eines schweren Erdbebens am südlichen Oberrhein

Ein Erdbeben mit Magnitude 6.5 (oder noch mehr) hätte großflächige Verwüstungen zur Folge. Viele Häuser würden einstürzen, noch in Hundert Kilometern Entfernung gebe es Schäden, in Schwarzwald und Vogesen drohende Erdrutsche. Wann sich ein solches Erdbeben wiederholt, weiß niemand. Vielleicht dauert es noch Jahrhunderte. Dass das gestrige Erdbeben ein Vorbeben war, ist äußerst unwahrscheinlich. Aber zumindest war es ein deutliches Lebenszeichen. Für manche eine Erinnerung, Häuser sicherer zu bauen. Für alle anderen auf jeden Fall zu wissen, was im Ernstfall zu tun ist. Falsche Verhaltensweisen gefährden im Ernstfall das eigene und fremde Leben. Falsche Verhaltensweisen, wie sie uns Hunderte Zeugen seit gestern Abend beschrieben. Dazu in einem späteren Text mehr.