Ein schweres Erdbeben hat am Dienstag (21. März) in Teilen von Afghanistan und Pakistan schwere Schäden angerichtet. Mindestens 15 Menschen kamen ums Leben während rund 200 weitere verletzt wurden. In den nördlichen Regionen beider Länder stürzten viele Gebäude ganz oder teilweise ein, es gab große Erdrutsche und noch größere Panik. Panik, zu der auch das vermeintlich lebensrettende Google-Erdbebenfrühwarnsystem beigetragen hat. Denn statt wie beabsichtigt die Magnitude des Erdbebens anhand von Smartphone-Detektionen korrekt zu berechnen und Auswirkungen abzuschätzen, hat sich das System um mehr als eine Größenordnung verrechnet. Wie kann das sein?

Das Epizentrum des Erdbebens lag in der Hindukusch-Region im Norden von Afghanistan. Nach bestätigten Auswertungen des United States Geological Survey und des Geoforschungszentrum Potsdam erreichte es Magnitude 6.5. Für die Region ist dies eine hohe, aber keine außergewöhnliche Magnitude. Erst im Jahr 2015 kam es an gleicher Stelle zu einem Beben mit Magnitude 7.5, das hunderte Menschenleben forderte. Vielleicht werden sich ein paar Menschen an dieses Beben erinnert haben, als sie gestern die Google-Frühwarnung auf ihr Smartphone bekommen haben. Denn statt M6.5 ermittelte Google eine Magnitude von 7.7, also stärker und damit potentiell katastrophaler.

Zwar waren die Auswirkungen schlimm, wie die Opferzahlen zeigen. Doch von einer großen Katastrophe kann nicht die Rede sein. Vielerorts stürzten Wände ein, doch waren dies überwiegend Gebäude mit schlechter Bauweise, die schon bei kleineren Erdbeben anfällig für Schäden sind. Magnitude 7.7 wäre eine andere Hausnummer.

Google hatte im vergangenen Jahr angekündigt, dass Android-Erdbebenfrühwarnsystem weltweit einzuführen. (Wie das Frühwarnsystem funktioniert und wer davon profitiert) Bisher funktionierte es auch relativ zuverlässig. Bei jedem größeren Erdbeben in dicht besiedelten Gebieten gab es eine entsprechende Warnung mit einigermaßen verlässlicher Abschätzung des Risikos. Gröbere Fehler wurden nicht bekannt. Bis gestern, als es sich um mehr als eine Größenordnung verschätzte. Dabei liegt die Ursache für die Fehleinschätzung wahrscheinlich in der Tiefe des Erdbebens.

Magnitudenberechnung aus Erschütterungsstärke

Um die Magnitude zu berechnen, wird die Stärke der Erschütterungen genutzt, die jedes Smartphone über einen eingebauten Beschleunigungssensor ständig misst. Dabei gilt: Je stärker die Erschütterung, umso stärker das Erdbeben. Aber auch: Je größer das betroffene Gebiet, umso stärker das Erdbeben. Denn auch kleine Erdbeben können direkt am Epizentrum zu starken Erschütterungen führen. Treten diese aber großflächig auf, ist dies ein sicheres Zeichen für eine hohe Magnitude.

Als Indikator für die Stärke der Erschütterungen können zum Beispiel Gebäudeschäden genutzt werden. Bei der Erdbebenkatastrophe in der Türkei Anfang Februar, wo das erste Beben eben jenen Wert von 7.7 erreichte, waren diese weit verbreitet. Neben der kompletten Zerstörung ganzer Straßenzüge nahe des Hauptbruchs wurden auch noch in hunderten Kilometern Entfernung Risse in Mauern gemeldet. So zum Beispiel im Norden von Israel oder in der türkischen Region Sivas. Beide Orte sind etwa 800 Kilometer voneinander entfernt.

Die ShakeMap des Afghanistan-Erdbebens zeigt ein großes Gebiet hoher Intensität zwischen Tadschikistan und dem Norden von Pakistan. Zu sehr hohen Intensitäten kam es jedoch aufgrund der Tiefe des Bebens nicht.

Eine ähnliche Schadensausdehnung zeigte sich auch beim Afghanistan-Beben. Schadensmeldungen gab es dort unter anderem noch in der indischen Region Chamba, wo Gebäude Risse bekamen, sowie in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe, wo in einem Hotel Fliesen von der Wand stürzten. Beide Orte liegen rund 900 Kilometer auseinander. Somit hatte das Afghanistan-Erdbeben einen ähnlichen Schadensradius wie das Türkei Erdbeben, trotz deutlich geringerer Magnitude.

Tiefe Erdbeben haben größeren Schadensradius

Grund dafür ist die größere Tiefe. Das Afghanistan-Erdbeben hatte seinen Ursprung in 185 Kilometern Tiefe und damit tief im Erdmantel. Innerhalb des Erdmantels können sich Erdbebenwellen besser und ohne größeren Energieverlust ausbreiten. Dadurch sind die spürbaren Erschütterungen meist deutlich weiter zu spüren als bei gleichstarken Erdbeben in geringer Tiefe und können auch in größerer Entfernung zu Schäden führen. Doch gleichzeitig sind tiefe Beben oft auch harmloser, da ihre Maximalintensität deutlich geringer ist. Schließlich liegt das Epizentrum trotzdem noch mindestens 185 Kilometer vom Erdbebenherd entfernt, davon mindestens 40 Kilometer Erdkruste mit größerer Dämpfung.

Vergleich Afghanistan – Türkei: Am Hindukusch sowie im Norden Pakistans deuten die Schäden auf eine Maximalintensität von VII (sieben) hin. In der Türkei, wo das Erdbeben sogar die Oberfläche brach und ganze Städte verwüstete, erreichte die Intensität den Wert XI (elf).

Das Google-Warnsystem hat beim Afghanistan-Erdbeben starke Erschütterungen in weit auseinander liegenden Orten registriert. Mit diesen Informationen allein ist es naheliegend, dass ein großes Erdbeben in geringer Tiefe ursächlich war. Auf das Gegenteil hindeuten könnten nur Daten die direkt vom Epizentrum kommen. Da dieses aber in einer relativ abgelegenen Region liegt ist es durchaus fraglich, ob es dort viele Menschen gibt, die ein Android-Smartphone besitzen, das auch noch ständig mit dem Internet verbunden ist. Wahrscheinlich ist der Hindukusch ein weiter Fleck auf der Karte des Frühwarnsystems geblieben, sodass es keine oder zumindest keine handfesten Hinweise darauf gab, dass es sich um ein „kleineres“ Erdbeben in größerer Tiefe handelte.

Fehlende Daten aus Afghanistan?

Schließlich gilt wahrscheinlich auch der Grundsatz: Lieber einmal zu früh als einmal zu spät warnen, sodass die Software die Lösung mit einem flachen M7.7-Erdbeben bevorzugte. Ein großer Schreck für Anwohner, die kurzzeitig eine große Erdbebenkatastrophe fürchteten, aber glücklicherweise in diesem Fall unbegründet, auch wenn die Auswirkungen des Bebens alles andere als harmlos waren.

Dennoch zeigt auch dieses Erdbeben, dass das Erdbebenfrühwarnsystem durchaus Potential hat und besonders den Regionen hilft, in denen ein professionelles Warnsystem niemals möglich wäre. Die Probleme, Erdbeben in größerer Tiefe als solche zu identifizierten, werden spätestens jetzt bekannt sein und die Erfahrungen und Messwerte aus Afghanistan und Pakistan dazu beitragen, eine erneute derartige Fehleinschätzung in Zukunft zu verhindern.