Erdbebenserie in Afghanistan: Kettenreaktion im Untergrund
Nicht einmal zwei Wochen ist es her, dass die Region um die Stadt Herat im Westen von Afghanistan von einer verheerenden Erdbebenkatastrophe erschüttert wurde. Zwei Erdbeben der Stärke 6.3 sowie mehrere weitere innerhalb von nur einer Stunde vernichteten am 7. Oktober ganze Dörfer und ließen über 1300 Menschen keine Überlebenschance. Doch dabei blieb es nicht: Zwei weitere große Erdbeben, beide wieder mit der Magnitude 6.3, folgten am 11. und am 15. Oktober, forderten weitere Opfer und verschärften die Katastrophe.
Nun, nach dem vierten Erdbeben der Magnitude 6.3 innerhalb dieser kurzen Zeitspanne, stehen wir vor einer Reihe drängender Fragen: Warum so viele Erdbeben? Warum in einem Vier-Tage-Abstand? Warum immer wieder die gleiche Stärke? Und vor allem: Was kommt als nächstes? Dies sind die wichtigsten Fragen zum Verständnis dieser einzigartigen Erdbebenserie, auf die ich im folgenden Text eingehe.
Die Geologie hinter den Beben
Wie bereits in meinem vorherigen Artikel diskutiert, liegt die Ursache für diese Erdbebenserie in der komplexen tektonischen Struktur der Region. Afghanistan ist geologisch ein Hotspot, der durch die Kollision dreier tektonischer Platten in mehrere sogenannte Blöcke zerbrochen ist. Diese Blöcke bewegen sich ebenfalls, wenn auch nur langsam, und entlang ihrer Grenzen kommt es ebenfalls zu Spannungsaufbau und somit mittelfristig auch zu Erdbeben.
Herat liegt dort, wo mehrere dieser Grenzen zusammenlaufen. Hier sind die tektonischen Bedingungen besonders komplex, was dafür sorgt, dass die tektonischen Grenzen hier in mehrere kleine Störungssysteme unterteilt sind. Jedes dieser Störungssysteme bewegt sich nur sehr langsam und baut nur sehr langsam Spannung auf, kann aber zu großen Erdbeben führen.
Der Dominoeffekt unter der Erde
In den letzten Tagen fällt jedoch besonders eine Tatsache ins Auge: Die großen Erdbeben scheinen einem Muster zu folgen, ähnlich einem Dominoeffekt oder einer Kettenreaktion. Ausgehend vom ersten Erdbeben am frühen Morgen des 7. Oktobers kam es Stück für Stück zum Bruch und somit zum nächsten Erdbeben. Alle mit der exakt gleichen Stärke. Damit eine solche Erdbebenkaskade entstehen kann, müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein.
- Es braucht eine Vielzahl von aktiven Störungssegmenten, an denen ausreichend Spannung aufgebaut ist. Je größer eine Störung, umso stärker können Erdbeben dort werden. Für Beben der Stärke 6.3 braucht es nur eine Störungslänge von 10-15 Kilometern.
- Es braucht einen Initialzünder.
- Die Störungen müssen nah beieinander liegen, um sich gegenseitig beeinflussen zu können.
Ein Jahrtausend der Ruhe
Dies scheint hier gegeben zu sein. Man weiß mit großer Sicherheit, dass es seit Jahrhunderten, maximal seit dem Jahr 958, kein großes Erdbeben mehr gegeben hat. Die Platten und Blöcke bewegen sich aber weiter und bauen damit Spannung auf. Genug für ein Beben der Stärke 6.3.
Da die tektonischen Grenzen hier sehr fragmentiert sind und ein Erdbeben immer nur eines der Bruchfragmente betrifft, bleibt bei dessen Nachbarn die Spannung nicht nur bestehen, sie wird sogar erhöht. Ähnlich wie bei einem Poster an der Wand: Wenn an einer Ecke das Klebeband abrutscht, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auch das Klebeband an der anderen Ecke sich löst, da dieses nun eine höhere Last zu tragen hat.
Anders als bei Plattengrenzen, die eher einem großen Poster mit vielen Befestigungen ähneln, bestehen die Störungszonen im Westen von Afghanistan aus vielen kleinen Postern ähnlicher Größe, die nicht nur wenige Befestigungen haben, sondern auch noch untereinander verklebt sind. Subduktionszonen oder große Störungen wie die San Andreas Störung in Kalifornien sind gut festgeklebt, an ihnen wird aber mit deutlich größerer Kraft gezogen. Wenn sie reißen, dann direkt in einem großen Abschnitt.
Kleine Störungen, große Wirkung
Die schnelle zeitliche Abfolge der Erdbeben im Abstand von vier Tagen macht diese Erdbebenserie besonders, fast schon einzigartig in neuerer Zeit. Wenn man aber bedenkt, dass Störungszonen, die zu einem solchen Muster neigen, oft Ruhephasen von mehreren Jahrtausenden haben und auch nicht jedes Mal ein solch perfektes Muster hinlegen, ist es durchaus verständlich, dass so etwas selten passiert.
Aber es passiert. Es ist selten und selbst in der seismologischen Community haben sich am Sonntagmorgen viele die Augen gerieben – es kommt ziemlich überraschend. Aber es ist vom Grundprinzip her erklärbar. Viele wichtige Detailfragen, welche Störung wie welche beeinflusst hat, etc., bleiben aber erstmal ungeklärt. Nicht nur, weil das generell sehr schwierig ist. Die Störungszone rund um Herat ist kaum erforscht und auch die Erdbeben selbst sind vergleichsweise schlecht wissenschaftlich ausgewertet, da es im näheren Umkreis kaum Messstationen gibt. Die nächsten sind in den rund 500 Kilometer entfernten Hauptstädten Kabul und Aschgabat.
Für eine weitere Abschätzung der Entwicklung würde aber selbst die detaillierteste Forschung nicht ausreichen. Dafür ist die Komplexität von Erdbeben zu hoch und vieles, was man wissen müsste, liegt außerhalb dessen, was mit den aktuellen technischen Gegebenheiten ermittelbar ist. Trotz des bisher perfekten Musters wird also auch das nächste Erdbeben für die Menschen in Herat überraschend kommen. Vielleicht schon in den nächsten Tagen, vielleicht aber auch erst in einigen Jahrtausenden.
Ein Weckruf für alle
Eine unsichere und extrem beängstigende Situation, die natürlich das Leid, sowohl körperlich als auch psychisch, nochmal massiv verschlimmert. Aber leider unvermeidbar. Die Situation kann jedoch als Warnung für andere Regionen dienen. Selbst Jahrtausende ohne großes Erdbeben sind kein Zeichen für Sicherheit. Wenn man weiß, dass es in historischer Zeit in einer Region große Erdbeben gegeben hat, und sei es in der Jungsteinzeit, muss man auch in Zukunft damit rechnen.
Die Katastrophe in Herat ist zu 99% menschengemacht. Gebäudetypen, bei denen ganze Dörfer dem Erdboden gleich gemacht werden, sollten in solchen Regionen nicht errichtet werden. Leider sind sie vor allem in Afghanistan immer noch sehr verbreitet. Mit erdbebensicheren Gebäuden wären die meisten Menschenleben gerettet worden und auch die psychische Belastung durch die wiederholten Beben wäre verringert worden.
Herat zeigt, wie schnell aus einem Jahrtausend ohne Erdbeben eine Katastrophe wird, die selbst Experten staunen lässt. Und es wird keine sein, die einzigartig bleibt. Herat wird, hoffentlich, für das nächste Jahrtausend seine Schlüsse daraus ziehen. Andere Regionen sollten dies als Weckruf sehen.
Fachbegriffe erklärt❓
- Abschiebung: Eine Störungsart. Dabei sinkt ein Block, bzw. eine Platte relativ zur angrenzenden ab.
- Block: Auch Scholle genannt. Bruchstück oder Fragment einer tektonischen Platte.
- Bruch: 1. Bruchvorgang: Physikalischer Prozess, der einem Erdbeben zugrunde liegt. 2. Riss in der Erdkruste: Synonymm für Störung.
- Dehnungszone: Ein Bereich, wo die Erdkruste durch tektonische prozesse auseinandergezogen wird.
- Epizentrum: Der Punkt auf der Erdoberfläche, der direkt über dem Ursprungspunkt eines Erdbebens liegt.
- Erdbeben: Ein plötzliches, oft heftiges und kurz anhaltendes Erschüttern der Erdoberfläche, das durch die Freisetzung von in der Erdkruste gespeicherter Energie entsteht. Erdbeben können natürlichen oder menschlichen Ursprungs (induziert) sein und verschiedene Auswirkungen haben, von nicht spürbaren Bewegungen bis hin zu massiven Zerstörungen und Verlust von Menschenleben.
- Erdbebenwellen: Eine Seismische Welle. Schwingungen, die von einem Erdbeben ausgesendet werden und um den ganzen Globus wandern können. Seismische Wellen können auch andere Ursprünge haben (z.B. Explosionen, Erdrutsche, etc.). Erdbebenwellen sind von anderen Seismischen Wellen meist klar unterscheidbar.
- Erdkruste: Oberste, feste Schicht der Erde. Sie umfasst in der Regel die obersten 10 bis 60 Kilometer des Planeten.
- Erdmantel: Schicht unter der Erdkruste, die nochmal in oberer und unterer Erdmantel unterteilt ist. Das Gestein hier ist ebenfalls fest, kann aufgrund der extrem hohen Temperaturen aber fließen. Durch diese Bewegungen werden Tektonische Platten angetrieben. Schnelle Aufwärtsströmungen können an der Erdoberfläche zu Vulkanismus führen.
- (Tektonischer) Graben: Eine Störungszone, die an zwei Seiten durch Abschiebungen begrenzt ist. Dabei senkt sich das Grabeninnere ab. Tritt meist in tektonischen Dehnungszonen auf. Bekanntes Beispiel: Oberrheingraben.
- Intensität: Ein Maß für die Stärke von Erschütterungen, unabhängig von der Magnitude. Oft ausgedrückt durch römische Ziffern. Gängige Skalen sind EMS-98 und Mercalli-Skala.
- Kollision: Tektonisch: Bereich, wo zwei Platten oder Blöcke sich übereinander schieben (Überschiebungen). Lässt Gebirge entstehen.
- Magnitude: Auch Stärke genannt. Ein Maß für die Energiemenge, die bei einem Erdbeben freigesetzt wird. Oft ausgedrückt auf der Lokalmagnituden-Skala (in Kalifornien als Richter-Skala bezeichnet) oder der Momenten-Magnituden-Skala.
- Plattengrenzen: Große Risse in der Erdkruste, an denen es durch Plattenbewegungen zu Energieaufbau kommt. Dabei können Erdbeben entstehen.
- Paläoseismologie: Wissenschaftszweig, der anhand geologischer Spuren vorhistorische Erdbeben erforscht.
- Störungen: Risse innerhalb einer tektonischen Platte, an denen es zu gegensätzlichen Bewegungen kommt. Dabei können Erdbeben entstehen.
- Strike-Slip: Eine Störungsart, auch Blattverschiebung genannt. Zeichnet sich durch weitestgehend horizontale, gegensätzliche Bewegung zweier Blöcke oder Platten aus. Bekanntes Beispiel: San Andreas Störung.
- Seismisch: Im Zusammenhang mit Erdbeben oder Erderschütterungen.
- Seismologie: Forschung, die sich mit Erdbeben oder Erdbebenwellen beschäftigt.
- Seismometer: Auch Seismograf. Instrument zur Registrierung von Erdbebenwellen.
- Station: Seismologisch: Messstelle, wo mithilfe von Seismometern Erdbeben registriert werden.
- Subduktionszone: Eine Art Plattengrenze, Subtyp der Überschiebung, oft bogenförmig. Hier schiebt sich eine (in der Regel ozeanische) Erdplatte unter eine andere. Dabei kann sie bis in den Erdmantel hinabsinken.
- Tektonische Platten: Auch Erdplatte genannt. Große Bruchstücke der Erdkruste, deren Bewegungen Erdbeben, Vulkanismus und die Bildung von Gebirgszügen verursachen können. Unterteilt in Ozeanische Platten, die nur wenige Kilometer dick sind und meist von namensgebenden Ozeanen bedeckt sind, und Kontinentalplatten, die deutlich dicker sind und in der Regel Kontinente formen.
- Überschiebung: Eine Störungsart. Dabei schiebt sich ein Block, bzw. eine Platte unter oder über eine andere.
One thought on “Erdbebenserie in Afghanistan: Kettenreaktion im Untergrund”
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Habe gelesen, dass die Klimakrise zu häufigeren Vulkanausbrüchen führen könnte. Gibt es eine Abhängigkeit der Klimaveränderungen eventuell auch in Bezug auf Erdbeben? (Ja, Kontinentalverschiebungen und so, ich weiß. Und Nein, ich bin ganz bestimmt kein Schwurbler.) Ist mir aber diese eine Frage wert. Vielen Dank.