Japan: Wie ein rätselhafter Erdbebenschwarm eskalierte

Das Erdbebenjahr 2024 beginnt mit einem dicken Ausrufezeichen. Gegen 8 Uhr Mitteleuropäischer Zeit traf das stärkste Erdbeben seit Jahrzehnten die Westküste von Japan. Mit Magnitude 7.5 erschütterte es die zu Honshu gehörende Noto-Halbinsel in der Präfektur Ishikawa, zerstörte dutzende Gebäude und löste einen Tsunami aus, der auch Nordkorea und Russland erreichte. Während die genauen Auswirkungen des Erdbebens, bei dem auch mindestens drei Menschen ums Leben kamen, weiter genauer untersucht werden, möchte ich an dieser Stelle den Blick auf die Hintergründe dieses Bebens richten. Denn das heutige Erdbeben ist der (absolute) Höhepunkt einer seit drei Jahren andauernden und sich verstärkenden Serie geologischer Prozesse, deren Ursprung bis heute nicht restlos geklärt ist.

Die Noto-Halbinsel ragt am Biegungspunkt der Hauptinsel Honshu nach Nordwesten ins Japanische Meer. Hier kam es in der Vergangenheit immer wieder zu teils größeren Erdbeben. Seit 2020 erlebt die Region aber eine massive Zunahme der Aktivität. Zehn-, vielleicht hunderttausende Erdbeben, Bodenhebungen und Spekulationen über ein mögliches Erwachen Millionen Jahre alter Vulkane waren in den letzten Monaten Gegenstand der Forschung, die von dem großen Erdbeben der Stärke 7.5 am 1. Januar 2024 schockiert wurde. Das Beben zerstörte dutzende Häuser, führte zu Bränden, Erdrutschen, Bodenverflüssigung, Stromausfällen und schickte einen rund zwei Meter hohen Tsunami durch das Japanische Meer. Drei Todesopfer, vier leblose verschüttete Personen und 35 Verletzte sowie tausende Evakuierte werden bis zum Abend gemeldet. In seiner Stärke übertraf es das Vorläuferbeben (M6.8 bis 7.0) aus dem Jahr 1729, bisher Referenzwert für erwartete Maximalmagnitude auf Noto.

Zerstörerische Erdbeben wie dieses sind grundsätzlich überall in Japan möglich. Doch bezüglich ihrer Häufigkeit gibt es regionale Unterschiede. So sind vor allem die Küsten im Osten und im Süden seismisch extrem aktiv. Dort liegen Subduktionszonen, wo drei Erdplatten unter Japan in den Erdmantel eintauchen. Gewaltige Erdbeben wie das Tohoku-Beben im März 2011 (M9.1) sind die Folge. Im Landesinneren gibt es kleinere Störungszonen, an denen die japanischen Inseln unter dem Druck der abtauchenden Platten in kleinere Schollen zerbrochen sind, die sich in verschiedene Richtungen bewegen. Schwere Beben um Stärke 7 sind hier fast überall möglich, aufgrund ihrer Nähe zu Bevölkerungszentren sind diese oft destruktiver als vergleichbare Erdbeben an den großen Subduktionszonen. Das Kobe-Beben 1995 (M6.9) und das Kumamoto-Beben 2015 (M7.0) sind bekannte Beispiele.

Große Subduktionszone im Osten, kleine Subduktionszonen im Westen

Auch entlang der Westküste, wo die japanischen Inseln an das Japanische Meer grenzen, sind große Erdbeben ein ernstes Risiko. Vor allem im Norden von Honshu befinden sich große Störungen parallel zur Küste, die quasi den kleinen Gegenpol zur Subduktionszone im Osten bilden und die Hauptinsel Japans von beiden Seiten unter tektonische Spannung setzen. Aus großtektonischer Sicht sind diese Störungen die Grenze zwischen der kleinen Amur-Platte im Westen, auf der das Japanische Meer liegt, und der Ochotsk-Platte im Osten, auf der der Norden Honshus sowie Hokkaido liegen. Dort, wo Honshu einen Knick nach Westen macht, kreuzt diese kleine Plattengrenze die Landmasse, bevor sie im Süden, nahe des berühmten Mt. Fuji, mit der Nankai-Subduktionszone zusammenläuft.

Dort, in diesem komplexen Feld aus tektonischen Bewegungen, Brüchen und Vulkanismus befindet sich die Noto-Halbinsel, dessen gebirgige Landmasse durch eben diese Kräfte aus dem Meer gehoben wurde. Die Nord- und Ostküste zeichnen den Verlauf der Störung, die sich heute ruckartig um mehrere Meter verschoben und Noto weiter wachsen lassen hat. Wachtum, das mit Zerstörung einherging und von Tsunami bis Bodenverflüssigung die gesamte Palette an Erdbebeneffekten bereitstellte. Ein großes Erdbeben, wie jedes andere in Japan. Könnte man meinen. Während da nicht die drei Vorjahre.

Am 12. März 2020 kam das erste Warnzeichen. Ein Erdbeben der Stärke 5.3 erschütterte Noto. Leichte Schäden durch die geringe Tiefe des Bebens waren die geringen Auswirkunge. Voraus ging dem Beben ein Erdbebenschwarm, der auch danach noch andauern sollte. Zehntausende meist kleine Erdbeben, die sich vor allem rund um die Nordostspitze der Halbinsel fokussierten und schnell das Interesse der Wissenschaftler weckten. Denn anders als die meisten Erdbebenschwärme kam dieser, um zu bleiben. Und stärker zu werden. Bis 2022 dauerte es jedoch, bevor das nächste Schadensbeben folgte. Erneut knapp Magnitude 5 Anfang Juni, erneut leichte Schäden. Zu diesem Zeitpunkt war aber bereits klar, dass in rund 15 Kilometern Tiefe entwas großes passiert.

Zunehmende Erdbebenaktivität und Bodenhebungen auf der Noto-Halbinsel seit 2020

Neben zehntausenden meist kleinen Erdbeben konnten auch beachtliche Bodendeformationen gemessen werden. Rund um das ringförmige Zentrum hob sich die Halbinsel seit 2020 um bis zu 10 Zentimeter. Eine Hebung, die durch die Erdbeben selbst nicht erklärt werden konnte. Viel mehr schien es, als haben Hebung und Erdbeben denselben Ursprung. Erdbebenschwärme sind in vielen Regionen der Welt bekannt und haben meist zwei natürliche Ursachen: Vulkanismus und Fluidbewegung. Vulkanismus ist auf der Noto-Halbinsel eigentlich seit 20 Millionen Jahren kein Thema mehr. Fluidbewegung, also das Verlagern von natürlich vorkommendem Wasser in der Erdkruste, ist möglich, müsste aber im vorliegenden Fall in einem beachtlichen und nahezu einzigartigen Ausmaß stattfinden, damit solche Bodenhebungen ermöglicht werden.

Seismizität und tektonische Übersicht der Noto-Halbinsel. Stand: 2022. Grafik: https://doi.org/10.21203/rs.3.rs-2776679/v1

Am 5. Mai 2023 folgte das erste Ausrufezeichen. Der Erdbebenschwarm hat sein Ring nun entgültig verlassen und griff auf die Störung über, die Noto über Millionen von Jahren aus dem Japanischen Meer auftauchen lies. Magnitude 6.2 erreichte das Erdbeben, das Gebäude zerstörte und auch ein Menschenleben kostete. Mitte 2023 lief die Forschung zum Ursprung von Erdbeben und Fluiden bereits auf Hochtouren. Zahlreiche wissenschaftliche Studien wurden in diesen Monaten veröffentlicht und lieferten mehr oder weniger klare Indizien, was in 15 Kilometern Tiefe geschieht. Was sicher ist: Aus irgendeinem Grund kommt es im Bereich einer ringförmigen Struktur in 15 Kilometern Tiefe zur massiven Bewegung von Fluiden, die aus der Tiefe aufsteigen. Eine Verlagerung von Erdbebenherden zeigt zudem eine Bewegung nach oben, wo sich die Fluide sammelten und die Halbinsel um Zentimeter anhoben.

Fluide unbekannter Herkunft lassen Noto erzittern

Diese Fluide griffen von ihrer Quelle auf die größeren Störungen der Region über, was schließlich auch zu den größeren Erdbeben führte. Unklar bleibt: Woher stammen die Fluide? Eine Hypothese ist, dass der ringförmige Ursprungsbereich eine Millionen Jahre alte Vulkancaldera oberhalb einer längst erstarrten Magmakammer ist und dass innerhalb dieser Magmakammer neue Gesteinsschmelze den Caldera-Ring in Bewegung versetzt hat. Ausgehend von diesem frischen Magma suchten sich die Fluide einen Weg nach oben. Dabei ist es aber völlig offen, wie viel Magma (wenn überhaupt) sich angesammelt hat. Auf jeden Fall dauerte der Erdbebenschwarm auch im Jahr 2023 an und damit auch dessen auslösender Prozess. Einzelne Erdbeben wurden auch immer wieder an den Störungen in geringerer Tiefe aufgezeichnet. Rückblickend vom Neujahrstag 2024 betrachtet: Ein Warnzeichen.

Erdbeben auf der Notohalbinsel vom 1. Dezember 2023 bis zum 1. Januar 2024. Entlang einer Südwest-Nordost verlaufenden Linie, an der das Hauptbeben der Stärke 7.5 die Erdkruste aufriss, konzentrieren sich die Nachbeben. Kleine Erdbeben im Nordosten der Halbinsel bilden das Zentrum des seit Jahren aktiven Erdbebenschwarms, der nun auf die große Störung übergriff. Karte: Bosai / NIED

Was sich über Jahre in der Tiefe bewegte hat nun an der Oberfläche das größte Erdbeben seit Jahrzehnten ausgelöst. Die Störung brach entlang der gesamten Länge der Insel und Richtung Nordosten sogar darüber hinaus auf. Eine Magnitude, die für die Region eher unerwartet kam. Über Jahre bauten die aufsteigenden Fluide und begleitende Bewegungen in der Tiefe den Druck auf diese Störung auf, der nun zu groß wurde. Magnitude 7.5 ist eine massive Verschiebung, die auch großflächig Auswirkungen haben kann. Inwieweit dies nun mit dem Ursprung der Fluide interagiert, den Verlauf des Erdbebenschwarms beeinflusst ober mögliche Türen für fortschreitende Entwicklungen öffnet, ist mehr als fraglich. Der Erdbebenschwarm hat sich selbst überholt und wirft nun mehr Fragen auf als je zuvor. Ein großes Fragezeichen hinter eine jahrelangen Kette an Ereignissen, mit derem Höhepunkt das Erdbebenjahr 2024 ein frühes, fettes Ausrufezeichen an Wissenschaft und Öffentlichkeit sendete.

Literatur

Amezawa, Y., Hiramatsu, Y., Miyakawa, A., Imanishi, K., & Otsubo, M. (2023). Long‐Living Earthquake Swarm and Intermittent Seismicity in the Northeastern Tip of the Noto Peninsula, Japan. Geophysical Research Letters50(8), e2022GL102670.

Yoshida, K., Uchida, N., Matsumoto, Y., Orimo, M., Okada, T., Hirahara, S., … & Hino, R. (2023). Updip fluid flow in the crust of the northeastern Noto Peninsula, Japan, triggered the 2023 Mw 6.2 Suzu earthquake during swarm activity. Geophysical Research Letters50(21), e2023GL106023.

Nishimura, T., Hiramatsu, Y., & Ohta, Y. (2023). Episodic transient deformation in the Noto Peninsula, central Japan, revealed by the analysis of multiple GNSS networks.

Yoshida, K., Uno, M., Matsuzawa, T., Yukutake, Y., Mukuhira, Y., Sato, H., & Yoshida, T. (2023). Upward Earthquake Swarm Migration in the Northeastern Noto Peninsula, Japan, Initiated From a Deep Ring‐Shaped Cluster: Possibility of Fluid Leakage From a Hidden Magma System. Journal of Geophysical Research: Solid Earth128(6), e2022JB026047.

Nakajima, J. (2022). Crustal structure beneath earthquake swarm in the Noto peninsula, Japan. Earth, Planets and Space74(1), 160.