Die Erdbebenkatastrophe in Syrien und der Türkei ist eine der schlimmsten seit Jahrzehnten. Mehr als 47.000 Todesopfer durch die beiden Hauptbeben (M7.8 und 7.6) sind bisher bestätigt. Es ist völlig unklar, wie viele Leichen auch mehr als zwei Wochen später noch unter den 100.000 zerstörten Gebäuden liegen. Ein kräftiges Nachbeben hat am Montag erneut Todesopfer gefordert. Sechs Menschen starben, 294 wurden nach Angaben türkischer Behörden verletzt. Hunderte weitere waren auch in Syrien betroffen. Dass Nachbeben gefährlich sind, zeigt sich immer wieder. Nach schweren Hauptbeben wie diesen können sie Monate oder sogar Jahre anhalten. Wir erklären, wie Nachbeben entstehen, was der Unterschied zu getriggerten Erdbeben ist und welche Regionen im Katastrophengebiet diese nun besonders fürchten müssen.

Was ist ein Nachbeben?

Als Nachbeben bezeichnet man in der Regel ein schwächeres Erdbeben, das auf ein großes Erdbeben folgt und unmittelbar mit diesem zusammenhängt. Dabei betreffen Nachbeben in der Regel den Abschnitt der Bruchzone, die bereits beim Hauptbeben aktiv war. Ihre Magnitude liegt meist im Maximum eine Größenordnung unter der des Hauptbeben. Auf die Türkei übertragen heißt das: Ausgehend vom M7.8 Hauptbeben sind Nachbeben bis Magnitude 6.8 zu erwarten.

Nachbeben können über Monate oder sogar Jahre auftreten. Dabei wird es mit der Zeit schwieriger, ein Nachbeben als solches klar zu definieren. Liegt das Hauptbeben bereits mehrere Jahre zurück, ist es kaum noch möglich zu sagen, ob das Nachbeben wirklich ein solches ist und damit ohne das Hauptbeben nicht aufgetreten wäre. Der Übergang von Nachbebensequenz zurück zu normaler Hintergrundaktivität ist fließend.

Wie entstehen Nachbeben?

Bei einem großen Erdbeben bricht die Erdkruste entlang einer oder mehrerer Störungszonen großflächig auf und verschiebt sich ruckartig um mehrere Meter. Die Kontaktfläche zwischen den beiden sich verschiebenden Gesteinsblöcken heißt Störungsfläche. Im Falle des M7.8 in der Türkei hatte diese eine Fläche von über 10.000 Quadratkilometern. Ähnlich wie zwei Hände, die man gegeneinander reibt, ist die Störungsfläche nicht glatt und es gibt beim Bewegen an manchen Stellen größere Widerstände.

Sind die Widerstände zu groß, kann die Verschiebung beim Hauptbeben gebremst werden. Das heißt, dass an manchen Stellen entlang der Störungsfläche die Verschiebung bis zu fünf Meter betragen kann, während es an anderen Stellen nur ein Meter oder weniger sind. Wie das beim Türkei-Erdbeben ablief, zeigt diese Animation. Ausgehend vom Epizentrum breitete sich der Bruch entlang der Störung aus. Die verschiedenen Rottöne zeigen, wie stark die Verschiebung an welcher Stelle zum jeweiligen Zeitpunkt war.

Man sieht deutliche Unterschiede innerhalb der Störungsfläche. Den höchsten Versatz gibt es im Zentrum der jeweiligen Störungen. Zu den Enden hin wird es weniger. Innerhalb der Bruchzone gibt es zudem große kleinräumige Unterschiede.

Innerhalb der Erdkruste finden Bewegungen jedoch relativ gleichmäßig statt und damit baut sich entlang von Störungen auch relativ gleichmäßig Spannung auf und ab. Wird bei einem Hauptbeben an einer Stelle A Spannung durch eine 5-Meter-Verschiebung abgebaut, an direkt angrenzender Stelle B aber nur Spannung mit 1-Meter-Verschiebung, heißt das, dass an Stelle B noch 4 Meter potentieller Versatz übrig ist. Nun gibt es drei Möglichkeiten:

  1. Bereits bei einem früheren Erdbeben an Stelle B wurde Spannung gelöst, sodass der Unterschied ausgeglichen wird. Im Türkei-Beispiel ist dies im Nordosten der Bruchzone der Fall, wo es vor drei Jahren ein Erdbeben der Stärke 6.8 gab.
  2. Die Differenz gleicht sich langsam aus. Eine kriechende Verschiebung der Erdkruste findet entlang der Störungsfläche statt, die mehrere Tage oder Wochen andauert. An der Oberfläche bemerkt man dies möglicherweise durch wachsende Risse und Spalten im Boden.
  3. Die Restspannung wird durch weitere Erdbeben abgebaut: Potential für große Nachbeben.

Wo treten Nachbeben auf?

Gebiete mit einer großen Restspannung sind somit Gebiete mit potentiell starken Nachbeben. Das langsame Kriechen verläuft ebenfalls nicht reibungslos: Hier gibt es in der Regel zusätzlich zum Kriechen viele kleinere ruckartige Verschiebungen: Viele kleinere Nachbeben. Vergleicht man also die räumliche Verteilung der Verschiebung mit der Verteilung der Nachbeben, fallen deutliche Korrelationen auf.

So sind die Abschnitte entlang der Störungsfläche mit größtem Versatz (dunkelrot) die mit der geringsten Nachbebenaktivität (z.B. bei Pazarcik). Eine hohe Anzahl kleinerer Nachbeben gibt es in dem Bereich mit großen Unterschieden auf geringer Fläche (z.B. rund um das M7.8-Hauptbeben). Auffällig sind zudem die Gebiete, wo beim jeweiligen Hauptbeben kein oder nur sehr wenig Versatz stattfand. Beim M7.8 ist dies das Südende der Bruchzone rund um Antakya, beim M7.6 das westliche Ende nahe der Stadt Göksun, wo der Hauptbruch (durch die Biegung der Störung) abrupt abbremste.

In Göksun war in den ersten Tagen die Nachbebenaktivität am höchsten. Zwei Nachbeben erreichten Magnitude 6, viele weitere Magnitude 5. Dabei kam es auch zu Aktivität an unmittelbar angrenzenden Störungszonen (getriggerte Erdbeben). Der kleinräumige Unterschied wurde und wird hier weiterhin durch starke Nachbeben ausgeglichen. Es ist zweifelhaft, dass die bisherige Nachbebenaktivität ausreichend war, um den Unterschied komplett auszugleichen. Zudem gibt es hier viele abzweigende kleinere Störungen, die möglicherweise getriggert werden können.

In Antakya und südlich davon war die Nachbebenaktivität hingegen insgesamt gering. Nur wenige, meist kleine bis moderate Nachbeben wurden aufgezeichnet, trotz kleinräumiger Unterschiede und verbliebenem Bruchpotential. Das M6.3 am Montagabend, dem eine eigene starke Nachbebensequenz (bis M5.8) folgte, ereignete sich unmittelbar südlich davon.

Was ist der Unterschied zwischen Nachbeben und getriggerten Erdbeben?

Nachbeben beschränken sich auf die Bruchzone des Hauptbebens. Doch die großflächigen Verschiebungen der Erdkruste bei einem großen Erdbeben können auch in weiterer Entfernung zu Spannungsveränderung führen. Befinden sich in diesen Gebieten aktive Störungen, an denen bereits eine hohe Spannung aufgebaut ist, kann der Zuwachs durch das andere Erdbeben ein neues Erdbeben auslösen. So geschehen in der Türkei, als neun Stunden nach dem M7.8 ein M7.6 weiter nördlich folgte.

Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, besteht auch an weiteren Störungen das Potential, Erdbeben zu triggern. Neben der Malatya-Störung im Nordosten und der Region um Göksun im Nordwesten sind dies vor allem die Störungen im Süden: Zum einen der Subduktionsbogen Richtung Zypern und zum anderen die Totes-Meer-Störung Richtung Syrien, Libanon und Israel.

Das M6.3-Erdbeben am Montag ereignete sich im Übergangsbereich zwischen der Ostanatolischen Störung und der Zypern-Subduktion, also eines der Gebiete mit dem höchsten Potential. Dabei scheint es aber so, dass sich dieses Beben noch knapp innerhalb der Hauptbruchzone ereignete und somit als Nachbeben klassifiziert werden kann. Bereits zuvor kam es an der Stelle zu kleineren Nachbeben, die sich auch bis weit vor der syrische Küste erstreckten.

Ausblick

Jedoch wird dieses Nachbeben quasi die Auswirkungen des Hauptbruchs verstärken, da nun zusätzliche Bewegung stattfand. Die Störungen Richtung Zypern und Syrien sind somit nun zusätzlich belastet. Das Potential für weitere große (getriggerte) Erdbeben in dem Gebiet hat sich mit diesem Nachbeben also weiter erhöht und auch das Risiko weiterer starker Nachbeben in Antakya bleibt bestehen.

Wie eingangs erwähnt, kann es noch Monate oder Jahre später zu starken Nachbeben kommen. Die bisherige räumliche Verteilung der Nachbeben gibt bereits einen guten Überblick, wo weitere Beben drohen. Aber auch die Ränder und Übergangsbereiche von Störungen und Bruchflächen sollten im Auge behalten werden. Das Beben am Montag zeigte, welche Gefahr von Nachbeben ausgeht und dass Warnungen, beschädigte Gebäude nicht zu betreten, absolut berechtigt sind. Erdbeben treten immer überraschend und ohne Ankündigung auf. Nur Nachbeben geben uns eine gewisse Möglichkeit, einen räumlichen und zeitlichen Rahmen abzuschätzen. Eine Möglichkeit, die Leben retten kann.