Erschütterungen bis nach Paris, Stromausfälle und Tausende beschädigte Gebäude: Das Erdbeben nahe La Rochelle am 16. Juni 2023 war eines der folgenschwersten Erdbeben in Frankreich in diesem Jahrhundert. Mit Magnitude 5.3 war es zudem eines der stärksten Beben im Westen des Landes. Für die Anwohner kam das Beben vollkommen überraschend. Dabei ist die Westküste Frankreichs ein nicht komplett unbekanntes Erdbebengebiet. Über Frankreichs Jahrhundert-Erdbeben, eine sehr alte und rätselhafte Störungszone und einer Warnung für die Zukunft.

Abbildung 1: ShakeMap des Erdbebens (M5.3) am 16. Juni 2023.

Das Erdbeben

Das Epizentrum des Erdbebens lag an der Grenze der Departements Deux-Sèvres und Charente-Maritime, etwa 30 Kilometer östlich der Stadt La Rochelle. Wie die Universität Straßburg ermittelte, erreichte das Beben eine Magnitude von 5.3. Die Tiefe des Erdbebens lag bei nur drei Kilometern, was mit ein Grund dafür war, dass die Intensität am Epizentrum vergleichsweise hoch war (siehe nächstes Kapitel).

Mit Magnitude 5.3 ist es eines der stärksten, die jemals im Westen Frankreichs aufgezeichnet wurden. Da der Katalog instrumenteller Seismizität aber vergleichsweise klein ist und nur bis in die 60er Jahre zurückreicht, ist ein Vergleich der Magnitude schwierig. Auch, weil die in Frankreich gängige Magnitudenskala zur Beurteilung der Erdbebenstärke ein paar spezielle Eigenschaften hat, die einen Vergleich mit anderen Magnituden erschwert. Das einzige Magnitude 5 Erdbeben im Westen Frankreichs in der Zeit ereignete sich 1972 auf der Ile d’Oleron unmittelbar südwestlich von La Rochelle. Je nach Datenquelle erreichte dieses eine Magnitude von 4.9 bis 5.5, war damit also ähnlich stark wie das aktuelle. Im Durchschnitt kommen Beben dieser Stärke einmal pro Jahrhundert vor.

Abbildung 2: Instrumentell gemessene Erdbeben in Frankreich zwischen 1962 und 2021. Daten: BCSF-RENASS

Die Auswirkungen des aktuellen Erdbebens

Das genaue Ausmaß der Schäden wird zur Zeit weiterhin von lokalen Behörden untersucht. Dazu werden betroffene Gebäude genauer inspiziert. Auch Drohnen kommen zum Einsatz. Bisher weiß man, dass die Situation in den Dörfern direkt am Epizentrum ernst ist. Das Dorf La Laigne wurde komplett evakuiert, da die meisten Gebäude des Ortes potentiell einsturzgefährdet sind. 500 Menschen sind betroffen. Auch in den Nachbarorten Courçon und Mauzé-sur-le-Mignon mussten Menschen ihre Häuser verlassen. Mehrere Tausend Menschen waren zwischenzeitlich von Stromausfällen betroffen. Es kam zu Einschränkungen im Bahnverkehr. Eine Person wurde durch einen herabstürzenden Dachziegel verletzt. Nach ersten Schätzungen erlitten mehr als 1000 Gebäude Schäden, dutzende gelten als unbewohnbar.

Anhand dieser Schäden kann das Erdbeben mit Intensität VII klassifiziert werden. Ob lokal Intensität VIII erreicht wurde, werden die Auswertungen zeigen.

Zudem betraf das Erdbeben weite Teile von Frankreich. Von der Normandie bis ans Mittelmeer erstreckte sich das Schüttergebiet, womit es eines der weitreichendsten Erdbeben in Westeuropa der letzten Jahrzehnte ist. Noch in der 400 Kilometer entfernten Hauptstadt Paris wurde das Erdbeben vereinzelt verspürt, ebenso in den ähnlich weit entfernten Städten Lyon im Südosten und Montpellier im Süden des Landes. Beim EMSC gibt es zudem Wahrnehmungsmeldungen aus dem Süden Englands.

Auch zu diesem frühen Zeitpunkt der Evaluierung deutet sich bereits an, dass es eines der schadensreichsten Erdbeben in der jüngeren Geschichte Frankreichs wird. Zuletzt kam es im Jahr 2019 in Le Teil in Südfrankreich zu größeren Schäden durch ein extrem flaches Erdbeben der Stärke 5.1. In den westlichen Regionen rund um La Rochelle sind Schadensbeben seltener. Das letzte vergleichbare Erdbeben mit Intensität VII ereignete sich im Jahr 1972 auf der Ile d’Oleron. Davor traf es 1935 die Stadt Rouillac. Geht man weiter in die Vergangenheit kam es zu ähnlichen Erdbeben in den Jahren 1799 und 1711. Das Bouin-Erdbeben 1799 gilt als stärkstes der Region in historischer Zeit und verursachte erhebliche Schäden.

Tektonischer Hintergrund

Betrachtet man die Erdbebenkarte Frankreichs, fällt ein breiter Streifen mit Erdbebenaktivität auf, der entlang der Westküste etwa von Bordeaux bis in die Bretagne verläuft. Das aktuelle Beben befindet sich im südlichen Abschnitt dieser seismischen Zone, wo es auch in historischer (und instrumentell überwachter) Zeit die meisten Erdbeben gegeben hat. Diese historischen Erdbeben korrelieren teilweise, aber nicht immer, mit dem Verlauf aktiver Störungen.

Abbildung 3: Historische Erdbeben (mit Intensität) nahe La Rochelle und bekannte aktive Störungen

Die aktiven Störungen um La Rochelle gehören zur sogenannten Südlichen Armorican Scherzone (SASZ). Diese Scherzone ist ein Gebiet mit tektonischen Rissen in der Erdkruste. Sie erstreckt sich von der Westspitze der Bretagne bis in das Gebiet um La Rochelle und ist damit eine der größten aktiven tektonischen Bruchzonen in Westeuropa. Zudem ist sie sehr alt. Vor rund 350 Millionen Jahren entstand die Scherzone als Plattengrenze. Die Urkontinente Gondwana, Avalonia und Armorica stießen im heutigen Nordwest-Frankreich zusammen und führten zur Bildung eines riesigen Gebirgszugs. Im Laufe der Zeit veränderte sich diese Plattengrenze und aus einer Kollision wurde vor etwa 300 Millionen Jahren eine Scherzone, wo zwei Kontinente (statt zu kollidieren) aneinander vorbei rutschen. Damit war die Situation vergleichbar mit der heutigen San Andreas Störung in Kalifornien, die sich ebenfalls aus einer Kollisionszone entwickelte.

Gondwana ist aber inzwischen Geschichte. Heute befindet sich die SASZ nicht mehr an einer Plattengrenze, sondern im vergleichsweise stabilen Inneren der Eurasischen Platte und zudem abseits der Gebiete mit Hebung durch magmatische (Eifel, Zentralmassiv) und glaziale Prozesse (Nordeuropa). Dennoch ist die Region auch aktuell noch seismisch aktiv. Junge tektonische Prozesse kommen als Ursache für die Erdbebenaktivität aber nur bedingt infrage.

Warum gibt es heute noch Erdbeben in Westfrankreich?

Das Problem in der Region ist zudem, dass der historische Erdbebenkatalog wegen der lange Zeit nur rudimentären Überwachung unvollständig und ungenau ist. Nur vergleichsweise wenige Erdbeben sind exakt lokalisiert. Eine Korrelation von Erdbeben mit bekannten Abzweigen der SASZ ist nur in den seltensten Fällen möglich. Das aktuelle Beben liegt 30 Kilometer vom nächsten bekannten Zweig weg, der Herdmechanismus entspricht aber dennoch dem der Störungszone. Somit muss eine unbekannte Störung, die zur Scherzone gehört, ursächlich sein.

Durch bessere Verknüpfung von Erdbeben, bzw. Erdbebenherden mit bekannten Störungen kann man bessere Rückschlüsse auf die Entstehungsprozesse der Erdbeben schließen. Im Moment steckt diese Forschung für die Region aber noch in den Kinderschuhen, ein Umstand, der sich aber spätestens mit dem aktuellen Erdbeben ändern wird. Aktuell hat man lediglich den Hinweis, dass die SASZ so verläuft (also Nordwest-Südost), dass sie durch die tektonische Spannung ausgehend vom Mittelatlantischen Rücken, der Plattengrenze zwischen Eurasien und Nordamerika, reaktiviert werden könnte. Allerdings ist diese Spannung aufgrund der Distanz zur Plattengrenze nur noch sehr gering und erklärt somit nicht, warum die Erdbebenaktivität ähnlich hoch ist wie zum Beispiel am Niederrhein.

Als mögliche andere Faktoren, die die Erdbebenaktivität beeinflussen könnten, werden äußere Prozesse (Niederschlag, Grundwasserverhalten, Erosion, Bergbau/Steinbrüche, Triggern durch entfernte große Erdbeben) genannt, darauf deutet auch die oft sehr geringe Tiefe der Beben hin (wie im aktuellen Fall). Aber auch dies erklärt nur bedingt das Potential für größere Erdbeben, zumal geologische Untersuchungen bereits vage Hinweise auf vorhistorische, große Erdbeben (über Magnitude 6) identifiziert haben. Zudem gibt es aufgrund genannter Ungenauigkeiten keine eindeutigen Zusammenhänge oder Belege. Somit bleibt die Südliche Armorican Scherzone im Moment weitestgehend rätselhaft.

Ausblick: Erdbeben wird Forschung vorantreiben

Im Jahr 2019 erschütterte das Le Teil Erdbeben die Erdbebenforschung – und natürlich den Ort Le Teil, hinterließ tausende teils schwer beschädigte Gebäude und 17 Verletzte. Schwere Schäden, für Magnitude 5.1. Grund dafür war eine extrem oberflächennahe Störung, die sogar die Oberfläche durchbrach. Zwar war die Störung bekannt, galt jedoch nicht in der Form als aktiv. Inzwischen gibt es Nachweise früherer historischer Erdbeben an der Störung und auch der Entstehungsprozess des sehr überraschenden Erdbebens ist teilweise geklärt.

Ähnliche Forschung ist nun nach dem La Laigne Erdbeben zu erwarten. Der Impakt des Bebens war groß, es war eines der folgenschwersten Erdbeben in Frankreich im letzten Jahrhundert. Auch das öffentliche Interesse ist durch das überraschend große Schüttergebiet belegt. Zudem hat sich die seismologische Überwachung im Nordwesten Frankreichs in den letzten Jahren verbessert. Neue Datenquellen, die möglicherweise dabei helfen, die Südliche Armorican Scherzone besser zu verstehen und das Risiko, das von den vielen bekannten und unbekannten Störungen in der Region ausgeht, besser einschätzen zu können.

Denn auch wenn das Erdbeben gestern groß und für die Region überraschend war: Es war nicht das Ende der Fahnenstange. Das Bouin-Erdbeben 1799 hatte Magnitude 6, die prominent ausgeprägten Störungen und entsprechende geologische Funde lassen auch Magnitude 6.5 oder noch mehr in Zukunft nicht unmöglich erscheinen. Für die Südliche Armorican Scherzone gilt, was für alle seismisch aktiven Gebiete in vermeintlich stabiler Kontinentallage gilt: Schwere Erdbeben sind sehr selten, aber möglich. Sie betreffen bei weitem nicht jede Generation, aber wenn sie zuschlagen, kann ihr Impakt verheerend sein. Wenn Magnitude 5.3 schon Tausende Gebäude beschädigt, kann man sich ausmalen, dass eine Wiederholung des Bouin-Erdbebens oder noch stärkerer Beben Katastrophenpotential hat. Potential, das nun hoffentlich besser erforscht und von Bevölkerung und Behörden in Zukunft ernst genommen wird.

Quellen und Literatur

Erdbebenkarte Frankreich: BCSF-Rénass (2022). Instrumental seismicity in mainland France. EOST UAR830, Université de Strasbourg, CNRS. (Collection). doi:10.25577/fv3f-sq09 

Datenbank aktiver Störungen in Frankreich: https://bdfa.irsn.fr/index.html

Erdbebenkatalog Frankreich: https://www.sisfrance.net/seismes/

Beucler, É., Bonnin, M., Hourcade, C., van Vliet-Lanoë, B., Perrin, C., Provost, L., … & Authemayou, C. (2021). Characteristics and possible origins of the seismicity in northwestern France. Comptes Rendus. Géoscience353(S1), 53-77.

Bellier, O.; Cushing, E. M.; Sébrier, M (2021). Thirty years of paleoseismic research in metropolitan France. Comptes Rendus. Géoscience, Volume 353 no. S1, pp. 339-380.

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Perrin, C., Mocquet, A., Bonnin, M. J., Conway, S. J., Beucler, É., & Hourcade, C. (2022, December). Looking for Quaternary Fault Activity in the Armorican Massif (R8 FACT region): Preliminary Results of a Geophysical Analysis Along the Southern Armorican Shear Zone. In AGU Fall Meeting Abstracts (Vol. 2022, pp. T25D-0156).