Bei der Auswertung von großen Erdbeben werden mehrere Parameter bestimmt. Die wichtigsten sind das Epizentrum, die Stärke (Magnitude) und die Tiefe (Hypozentrum). Hinzu kommen meist noch einige geophysikalische Parameter, die aber für das öffentliche Interesse weniger relevant sind. Die Ermittlung dieser Daten kann je nach Komplexität des Erdbebens schwieriger oder einfacher sein. Manche Erdbeben sind so komplex, dass nicht nur die Werte ein Problem werden, sondern schon die generelle Frage: Wie viele Erdbeben waren es eigentlich?

Genau diese Frage stellten sich Seismologen am Mittwoch, nachdem es um 5:52 Uhr MEZ in der indonesischen Bandasee ordentlich gewackelt hat. Sehr ordentlich. Mehr als drei Minuten sollen die Erschütterungen nach Zeugenangaben auf der Insel Tanimbar gedauert haben. Glücklicherweise, aufgrund der Lage des Epizentrums tief im Meer, gibt es bisher keine Meldungen über größere Schäden. Die Lage auf den nächst gelegenen. dünn besiedelten Inseln ist aber noch unklar. Ein kleiner Tsunami folgte ebenfalls.

ShakeMap des heutigen Erdbebens (M7.1) in der Bandasee.

Die meisten internationalen und regionalen Erdbebendienste sind sich einig: Es waren zwei große Erdbeben im Abstand von weniger als einer Minute. Das erste laut USGS mit Magnitude 6.7 schwäche als das zweite mit Magnitude 7.1. Das GFZ Potsdam ermittelte 7.1 für beide. Doch ein Observatorium hält dagegen:  Geoscope. Der französische Dienst, spezialisiert auf große Erdbeben weltweit, hat beide Erdbeben als ein einziges Ereignis mit einer Dauer von drei Minuten interpretiert und eine Magnitude von 7.5 ermittelt.

Langes Erdbeben mit wechselnder Geschwindigkeit

Bei Erdbeben dieser Stärke wird die Moment-Magnituden-Skala verwendet, die auf der Energiefreisetzung basiert. Auf die Energiefreisetzung schließt man anhand der seismischen Signale, wie auch bei anderen Skalen. In der Regel nutzt man dafür nicht das gesamte Signal, da dieses mit zunehmender Entfernung zum Epizentrum immer länger wird, sondern nur die ersten Schwingungen. Dies reicht meist, um die Moment-Magnitude präzise zu bestimmen. Bei komplexen Erdbeben wird es schwieriger.

In der Geoscope-Interpretation ist das Erdbeben nicht ganz klassisch in einem Rutsch entstanden, sondern in Intervallen. Das heißt, die Verschiebung entlang der Störung dauerte kontinuierlich an, aber mit variabler Geschwindigkeit. Mal rutschte das Gestein schneller (= höhere Energiefreisetzung), mal langsamer (geringere Energiefreisetzung). Die Summe der gesamten Verschiebung entspricht der ermittelten Magnitude, 7.5. Im Szenario mit zwei Beben würden beide einen separaten Ursprungspunkt haben, das zweite ausgelöst durch das erste. Damit kommt es jedoch zu einem Widerspruch zwischen Geoscope und anderen Erdbebendiensten.

Denn selbst ausgehend davon, dass (laut GFZ) beide Erdbeben Magnitude 7.1 erreichten, wäre die Summe der Energiefreisetzung nicht 7.5, sondern weniger. Eine Magnitude mehr entspricht etwa dem dreißigfachen der Energie. Daher stellt sich nicht nur die Frage, ob es ein oder zwei Erdbeben waren, sondern ob möglicherweise noch weitere Erdbeben stattgefunden haben, um diese aufsummierte Energiefreisetzung zu ermöglichen. Bei mehreren Erdbeben innerhalb weniger Sekunden können manchmal selbst große übersehen werden. Oder, alternativ, ob die Geoscope-Magnitude zu hoch angesetzt ist.

Die Situation erinnert an ein ähnlich komplexes Erdbeben im Südatlantik vor zwei Jahren, wo sogar ein Erdbeben der Stärke 8.2 übersehen wurde.

Im Geoscope-Szenario würde das drei Minuten lange Erdbeben auf- und abschwellen. Möglich, dass jedes Aufschwellen ein eigenes, neues Erdbeben ist. In dem Fall wären es deutlich mehr als nur zwei Erdbeben. Doch die Datenlage gibt zur Zeit keine klare Antwort. Klar ist nur, dass der Bruchvorgang komplex gewesen und an einer oder sogar mehrere Störungszonen passiert sein muss. Tektonisch befindet sich das Epizentrum im Grenzbereich zweier Mikroplatten: Der Bandaseeplatte im Norden und der Timorplatte im Süden.

Komplexe Tektonik zwischen drei Kontinenten

Beide Platten sind teil des komplizierten tektonischen Systems in Südostasien, das vor allem durch die Subduktion der Indo-Australischen Platte im Süden und der Pazifischen Platte im Osten angetrieben wird. Dazwischen ist der äußerste Zipfel der eurasischen Landmasse in viele kleine Platten zerbrochen, die sich gegeneinander verschieben. Im Falle der Timorplatte und der Bandaseeplatte handelt es sich um eine horizontale Verschiebung (Strike-Slip), die aber nicht entlang einer klar definierten Störungslinie verläuft. Oder anders formuliert: Der genaue Verlauf dieser Grenze ist unbekannt, da sie sich unter dem Meer befindet.

Epizentren der heutigen Erdbeben (rot) und früherer Erdbeben über Magnitude 6.5 (schwarze Kreise). Daten: USGS

Dass es sich um ein größeres Störungssystem handelt, zeigt auch ein weiteres Erdbeben am Nachmittag. Denn nach den oder dem Erdbeben am Morgen folgte rund 10 Stunden später ein weiteres. Das USGS ermittelte Magnitude 6.7 und setzt das Epizentrum nordöstlich der vorherigen und somit an einem angrenzenden Segment der aktiven Störung. Die Aktivität am Morgen hat dort den Druck erhöht und somit das spätere Erdbeben ermöglicht. Diesem folgte auch noch eine eigene Nachbebenserie. Ein Dominoeffekt, ähnlich der jüngsten katastrophalen Erdbebenserie in Afghanistan.

Unser Wahrscheinlichkeits-Tool, das auf Wiederkehrperioden und Nachbebenmodellen basiert, wird für die Bandasee eine Wahrscheinlichkeit von 63% für ein weiteres Erdbeben über Stärke 6 in den nächsten sieben Tagen gerechnet. Weitere starke Erdbeben in der Region und eine Fortsetzung der Erdbebenserie sind somit realistisch. Wie viele Erdbeben am Ende Teil der Serie werden, wird schwierig zu ermitteln und bedarf genauerer seismologischer Studien. Denn das eine, die beiden oder die vielen Erdbeben am Mittwochmorgen zeigen, wie komplex Erdbeben sein können und warum sie auch für Forschende immer wieder eine Überraschung bieten können.