Erdbebenserie in Tirol – Ursachen und Hintergründe
Fünf Erdbeben über Magnitude 3 innerhalb von einer Woche haben viele Menschen in Tirol und angrenzenden Gebieten von Salzburg und Bayern beunruhigt. Diese Erdbebenserie, die am 11. Januar begann und am Abend des 19. Januar mit einem Beben der Stärke 3.5 ihren vorläufigen Höhepunkt erlebte, ist eine der stärksten in historischer Zeit im seismisch eher ruhigen Gebiet rund um Kitzbühel. Umso überraschender für viele die aktuelle Häufung in der „Erdbebenzone 0“, dem Gebiet mit der niedrigsten Erdbebengefährdung Österreichs. Über die aktuelle Erdbebenserie, ihre Ursachen und die möglichen Auswirkungen.
Nachtrag 23. Januar: Ein Erdbeben der Stärke 4.0 bildete heute den neuen, vorläufigen Höhepunkt dieser Erdbebenserie. Über die Hintergründe zur Erdbebenserie geht es in diesem Artikel. Mehr Infos zum Beben der Stärke 4.0 gibt es hier.
Insgesamt 42 mal bebte in den vergangenen 10 Tagen zwischen St. Johann und dem Pillerseetal in Tirol die Erde. Etwa ein Dutzend dieser Erdbeben konnten von der Bevölkerung umliegender Orte verspürt werden. Fünf Erdbeben waren so stark, dass sie bis ins nahe gelegene Kitzbühel und auch in angrenzenden Teilen von Bayern und Salzburg zu spüren waren. Auf deutscher Seite kam es zu spürbaren Erschütterungen vor allem rund um Reit im Winkl, bei den stärksten Erdbeben wohl auch bis zum Südufer des Chiemsees. Mit fünf spürbaren Erdbeben erlebte Bayern innerhalb von einer Woche damit genauso viele wie im gesamten Vorjahr 2023.
Warum gibt es Erdbeben in Tirol?
Im gesamten Alpenraum kommt es immer wieder zu kleineren, manchmal auch großen Erdbeben. Tirol und Bayern sind keine Ausnahme. Grob zusammengefasst sind seismische Aktivitäten in den Alpen eine Folge der Kollision vom europäischen und dem afrikanischen Kontinent. Italien, bzw. die Adria als nördlichster Abschnitt der Afrikanische Platte, drückt nach Norden und faltet so weiterhin das Gebirge auf. Reiben Gesteinsmassen aneinander entstecht Druck, der sich im Laufe der Zeit durch plötzliche Verschiebungen (Erdbeben) abbauen kann. Kleinräumiger betrachtet ist die Situation deutlich komplexer. Denn Erdbeben in den Alpen sind nicht gleichmäßig verteilt. Es gibt Regionen mit deutlich mehr und deutlich weniger dieser tektonischen Aktivität.
Grund dafür ist, dass das Bergmassiv an sich nochmal in mehrere Blöcke unterteilt ist, die sich aufgrund des tektonischen Drucks gegeneinander verschieben. Eine große Reibungszone ist die Inntal-Störung, die von Innsbruck über Kufstein bis nach Salzburg verläuft. Der nördliche Teil verschiebt sich relativ zum südlichen Teil nach Westen. Nach Norden zweigen zudem mehrere Seitenarme dieser Störung ab, eine davon verläuft entlang der Zugspitze bis nach Garmisch-Partenkirchen. Weiter südlich verläuft zudem die Salzachtal–Ennstal–Mariazell–Puchberg-Störung, kurz SEMP, die sich vom Zillertal über Schladming bis ins Wiener Becken erstreckt. Sie hat ähnliche Eigenschaften wie die Inntal-Störung. Während die Inntal-Störung vor allem in ihrem westlichen Teil auch zu Erdbeben führt, ist die SEMP vor allem in ihrem zentralen Bereich auf Salzburger Landesgebiet aktiv. Dort sind jeweils die Verschiebungen am stärksten.
Wie stark werden Erdbeben in Tirol?
In historischer Zeit ist Tirol für eine Reihe starker Erdbeben bekannt. Heraus sticht vor allem das Erdbeben in Hall bei Innsbruck im Jahr 1670, das stärkste historische Erdbeben des Bundeslandes. Es führte am Epizentrum zu schweren Schäden und Erdrutschen, zerstörte viele Gebäude und hinterließ hunderte Obdachlose. Acht Menschen wurden gemäß historischer Aufzeichnungen von einstürzenden Gebäuden erschlagen. Die Erschütterungen waren noch bis Nürnberg und Venedig zu spüren. Viele Nachbeben folgten. Seismologische Aufzeichnungen gibt es aus dieser Zeit zwar nicht. Doch anhand der Wirkung des Bebens wird dessen Magnitude auf etwa 5.7 geschätzt. Damit ist es eines der stärksten in der Geschichte von Österreich.
Doch die Geschichte von Erdbeben ist älter als die von Ländern. So gelang es mehreren Forschern bereits, noch stärkere Erdbeben in Tirol nachzuweisen, die sich in der Antike und in der Steinzeit ereigneten. In mehreren Seen Westtirols wurden Ablagerungen früherer Erdrutsche gefunden, teils mit Deformationsstrukturen, wie sie nur große Erdbeben auslösen können. Mehrere dieser Erdrutsche weisen gleiche Alter auf, ebenfalls ein klarer Hinweis auf ein starkes Erdbeben als gemeinsamer Auslöser dieser Rutschungen. Aus Verteilung und Größe der Erdrutsch-Ablagerungen konnte so eine Magnitude von über 6 für diese Erdbeben ermittelt werden, Epizentrum vermutlich entlang der Inntal-Störung oder ihrer Seitenarme irgendwo im Westen von Tirol.
St. Johann und Kitzbühel liegen allerdings im Osten Tirol. Eine Region an der Grenze zu Bayern und Salzburg, die in historischer Zeit kein größeres Erdbeben erlebte und für die bisher auch keine vorhistorischen Nachweise großer Erdbeben erbracht wurden. Das Gebiet liegt zwischen dem eher inaktiven Abschnitt der Inntal-Störung im Norden und dem inaktiven Abschnitt der SEMP im Süden. Daher wird die Region in die Erdbebenzone 0 eingeordnet, also eine Region, wo größere Erdbeben sehr selten sind und entsprechend keine besonderen Bauvorschriften gelten müssen.
„Sehr selten“ heißt aber nicht „komplett unmöglich“. Tektonische Verschiebungen sind in diesem Bereich zwar aktuell sehr schwach. Aber kleinere Brüche in der Erdkruste, an denen Bewegungen auftreten können, gibt es überall in den Alpen. Somit sind einzelne Erdbeben auch hier, wie überall in Österreich, immer möglich. Das letzte verbreitet spürbare Erdbeben liegt sogar erst ein Jahrzehnt zurück. Im Mai 2013 bebte es mit Magnitude 3.2 nahe des Ortes Lofer. Anders als aktuell ging dieses Beben nicht mit einer ganzen Serie einher, wobei kleinere Nachbeben folgten. Für ein weiteres Beben ähnlicher Stärke muss man aber schon weiter in die Vergangenheit blicken. Im Oktober 1974, also fast vor 50 Jahren war es, als bei bei St. Johann in Tirol mit Magnitude 3.5 bis 4.0 bebte. Noch stärker bebte es im Pillerseetal im Jahr 1921, was sogar zu Gebäudeschäden führte.
Warum gibt es Erdbebenserien?
Damit ist das Erdbeben vom Freitagabend eines der stärksten in der Region nördlich von Kitzbühel seit fast 50 Jahren und zudem auch der bisherige Höhepunkt der gesamten Erdbebenserie, womit es nochmal besonders heraussticht. Auch wenn es mangels historischer Vergleichsweise überraschend wirkt, sind Erdbebenserien in den Alpen und auch anderen Teilen Österreichs garnicht so ungewöhnlich. Zwar kennt man es, dass ein Erdbeben in der Regel ein einzelnes Ereignis ist, dem üblicherweise schwächere Nachbeben folgten. Aber auch mehrere Erdbeben in kurzer Zeit sind ein häufig beobachtetes Phänomen.
Ein einzelnes Erdbeben führt zu einem ruckartigen Abbau von Spannung im Gestein, indem es zu einer plötzlichen Verschiebung kommt. Die groß großflächig diese Verschiebung ist, lässt sich an der Magnitude des Erdbebens ablesen. Bei Magnitude 3.5 haben wir es mit einer Verschiebung im Millimeterbereich auf einer Länge von etwa 25 Metern zu tun, das ganze in einer Tiefe von rund fünf Kilometern. Obwohl es sich für Betroffene erschreckend anfühlt, ist das ganze im Maßstab ziemlich gering. Zum Vergleich: die Inntal-Störung hat eine Länge von über 200 Kilometern und hat über Millionen von Jahren umliegende Gesteinsblöcke um insgesamt mehr als 20 Kilometer verschoben.
Wenn es zu einer Verschiebung an einer Störung kommt, führt dies meist dazu, dass der Druck auf benachbartes Gestein ansteigt und eine weitere Verschiebung (also ein weiteres Erdbeben) dort wahrscheinlicher wird. In Gebieten, wo tektonische Kräfte eher gering sind, sind auch die Störungen kleiner und oft auch komplexer verzweigt. Dies kann dazu führen, dass die gesamte Spannung nicht mit einem einzelnen Erdbeben abgebaut wird, sondern der Abbau Schritt für Schritt erfolgt und so eine ganze Serie von Erdbeben entsteht, wie wir es aktuell beobachten.
Drohen nun weitere Erdbeben?
Eine solche Erdbebenserie kann lange andauern, oder sehr schnell wieder vorbei sein. Sie kann bei schwachen Erdbeben bleiben, oder sich im seltenen Extremfall bis zu einem starken Erdbeben steigern. Welche Situation im Einzelfall gegeben ist, hängt von vielen geologischen Eigenschaften ab, die nicht messbar sind. Daher ist es auch nicht möglich, irgendwelche Vorhersagen zum Verlauf einer Erdbebenserie zu treffen. In den meisten Fällen ist es so, dass Erdbebenserien (wie auch einzelne Erdbeben) eher eine geringe Magnitude haben. Stetige Steigerung bis zu einem großen Erdbeben, was sie zu klassischen Vorbeben machen würde, ist eher die Ausnahme und leider nicht vorab als solche identifizierbar.
Für die Menschen zwischen Kitzbühel und Reit im Winkl bedeutet dies also, dass auch in den kommenden Tagen und Wochen weitere Erdbeben recht wahrscheinlich sind. Wie stark diese Erdbeben noch werden, ist nicht abschätzbar. Große, gefährliche Erdbeben sind nicht auszuschließen, aber ebenso wie ein sehr baldiges Ende der Erdbebenserie nicht auszuschließen. Aufgrund fehlender erdbebensicherer Bauweise und der geringen Tiefe der Beben können schon Beben über Magnitude 4.5 größere Schäden an einzelnen Häusern anrichten, Haarrisse im Putz oder sonstige leichte, nicht strukturelle Schäden sind auch darunter möglich. Im Winter besteht bei größeren Erdbeben zudem ein gewisses Lawinenrisiko, was für Skitouristen relevant sein kann.
Anwohner und Urlauber in der Region sollten sich also an die Situation anpassen, mögliche Risiken durch herabfallende Gegenstände im Falle eines Erdbebens minimieren und generell vorsichtig sein. Denn auch wenn die Erdbebenserie wahrscheinlich keine großen Ausmaße erreichen wird und im historisch bekannten, kleinen Rahmen bleibt, sind Selbstschutzmaßnahmen langfristig sinnvoller als vermeidbare Risiken. Das nächste große Erdbeben kommt bestimmt, es ist nur eine Frage der Zeit. Mancherorts sind die Zeiten zwischen großen Erdbeben kürzer, woanders (sehr viel) länger.