Für viele Menschen in Deutschland sind Erdbeben noch immer ein Phänomen, das nur in Japan oder Kalifornien auftritt. Deutschland, so heißt es oft, sei nur sehr selten betroffen und dann auch nur entlang des Rheins so, dass man es kaum spürt. Ein Irrglaube, den das Jahr 2019 vielerorts korrigiert hat. Zwar haben wir in Deutschland unsere Erdbeben-Hotspots, die in diesem wie in fast jedem Jahr spürbare Erdbeben abbekommen. Doch auch an allen anderen Orten in der Bundesrepublik treten spürbare Beben auf. Teilweise im Durchschnitt einmal pro Jahrzehnt – selten genug, um sich nicht im Kollektivgedächtnis einzuprägen. Teilweise nur einmal in 10.000 Jahren – so selten, dass selbst aus historischen Aufzeichnungen kein vergleichbares Ereignis zu ermitteln ist.
So hat sich 2019 diesbezüglich mancherorts in die Geschichtsbücher eingetragen. Abseits davon war es meist Business as usual mit statistikbildenden Erdbebenserien, dem leidigen Thema menschengemachter Aktivität und der jährlichen Quotenvulkanpanik. 2019 zusammengefasst.

Schüttergebiete mit berechneter Intensität basierend auf Zeugenmeldungen aller in Deutschland spürbaren Erdbeben 2019. Historische spürbare Erdbeben seit 800 n. Chr. (Leydecker-Katalog) sind als graue Punkte dargestellt. Zum Vergrößern aufs Bild klicken.

Das Jahr in Zahlen

Während die Gesamtzahl an Erdbeben 2018 durch den Erdbebenschwarm im Vogtland hochgetrieben wurde, blieben derart intensive Sequenzen trotz einiger recht aktiver Phasen in diesem Jahr aus. Somit hat sich auch die Zahl spürbarer Beben um knapp 60% reduziert. Mit insgesamt 72 spürbaren Erdbeben, also im Schnitt einem Beben alle fünf Tage, liegt 2019 aber immer noch vor 2017, 2016 und 2015. Zum einen aufgrund der kleineren Erdbebensequenzen, zum anderen aufgrund der verbesserten Datenerfassung von erdbebennews.de.
Bei der Gesamtzahl der Erdbeben sind Ähnlichkeiten zu den Nicht-Vogtlandschwarm-Jahren vorhanden: 328 Erdbeben ab Magnitude 1, davon 254 rein natürlichen Ursprungs. Zu berücksichtigen sind zudem 22 in Deutschland spürbare Erdbeben, deren Epizentrum im grenznahen Ausland lag.
Die Anzahl induzierter Erdbeben in Deutschland hat sich im Vergleich zu den Vorjahren deutlich reduziert. Grund dafür ist das Ende des Bergbaus im Ruhrgebiet, der noch 2018 zu hunderten Beben geführt hat. 2019 waren es nur noch 17. Bei den induzierten Erdbeben in den sonstigen Bergbaugebieten, an den Gasfeldern Niedersachsens und an den Geothermie-Anlagen änderte sich wenig, von den lokalen Aktivitätsschwankungen mal abgesehen.

Die Erdbebensequenzen

Konstanz

Den diesjährigen Erdbebenschwerpunkt Deutschlands bildete die Bodanrück-Halbinsel im nördlichen Stadtgebiet von Konstanz. Eine mehrwöchige Erdbebenserie traf die Region im Sommer und führte neben dem zweitstärksten Beben des Jahres deutschlandweit (M3.7) zu insgesamt 18 spürbaren Beben, womit der Landkreis Konstanz sowohl bei den spürbaren als auch bei den nicht spürbaren Beben deutschlandweit in diesem Jahr die höchste Aktivität verzeichnete.
Ursprung dieser Erdbebenserie, die am 30. Juli begann und deren bisher letztes Ereignis am 15. Dezember registriert wurde, ist eine kleine Störungszone in geringer Herdtiefe, die sich vom Bodensee bis zum Schwarzwald erstreckt. Dies führte zu einem vergleichsweise geringen Wahrnehmungsschwellenwert bei der Magnitude, sodass selbst Beben deutlich unter Magnitude 2 verspürt wurden. Besonders in der Epizentralregion um Dettingen und Wallhausen, wo alle Epizentren lokalisiert wurden, konnten so recht viele Ereignisse verspürt werden, in der 10 Kilometer entfernten Altstadt von Konstanz jedoch „nur“ die sechs größten (siehe Tabelle oben).
Das Schüttergebiet des Hauptbebens umfasste auch Orte jenseits der Halbinsel, unter anderem Pfullendorf, Stockach und Singen.

Dass Erdbeben am Bodensee in solch geringer Tiefe und schwarmartig auftreten, ist relativ selten, hat es im Laufe der Geschichte jedoch schon mehrfach gegeben. Das jüngste Beispiel ist die Erdbebenserie in Hilzingen vor einigen Jahren, die ebenfalls ähnliche Charakteristiken aufwies und wahrscheinlich auf dieselbe Störungszone zurückzuführen ist. Online und in Boulevardmedien führte die Serie auch zu Spekulationen über ein mögliches Erwachen der Hegau-Vulkane, was jedoch unbegründet war. Das stetige Abklingen der Bebenhäufigkeit ist das normale Verhalten einer tektonischen Erdbebenserie. Zwar ist nicht auszuschließen, dass es auch in den kommenden Monaten noch vereinzelte Erdbeben gibt, aber die Hauptaktivitätsphase ist bereits lange vorüber.

Erdbeben in Deutschland (ab Magnitude 1). Spürbare Erdbeben sind rot gekennzeichnet. Zum Vergrößern aufs Bild klicken.

Albstadt

Anders als in Konstanz ging die spürbare Erdbebenaktivität in Albstadt nicht auf eine Erdbebenserie zurück. Jedoch sorgte hier eine kleine Serie im September für die recht hohe Anzahl an Beben. Spätere Ereignisse im November waren nicht damit verknüpft: Dem stärksten Beben in Deutschland, M3.8 am 4. November in Albstadt, folgte nur eine schwache Nachbebenserie, darunter jedoch eines mit Magnitude 2.7, das zumindest in Albstadt verspürt wurde. Ebenfalls (sehr vereinzelt) wahrgenommen wurden Nachbeben mit Magnitude 1.9 und 2.0. Das Hauptbeben war aufgrund der frühen Tageszeit bis zu 60 Kilometer vom Epizentrum entfernt wahrnehmbar, darunter Sigmaringen, Rottweil, Konstanz sowie im Raum Stuttgart und vereinzelt im Schwarzwald. Es war gleichzeitig das deutschlandweit stärkste Erdbeben seit 2014 und das stärkste im Zollernalbkreis seit 2003.

Besonders in Baden-Württemberg gab es im Laufe des Jahres mehrere kleine Erdbebenserien, unter anderem im südlichen Schwarzwald, bei Freudenstadt und bei Mössingen. Außer dem Beben in St. Peter (M2.9) Anfang April, dem eine Nachbebensequenz folgte, kam es bei keiner dieser Sequenzen zu spürbaren Erdbeben. Ebenso wenig bei der nun schon seit zwei Jahren sporadisch andauernden Erdbebenserie im Taunus mit etwa 20 Beben zwischen Magnitude 1 und 1.8 in diesem Jahr. Im Vogtland kam es in Januar, Juni und Oktober jeweils zu kleineren Erdbebenschwärmen mit einzelnen auch in Deutschland spürbaren Ereignissen.
Ausgelöst durch starke Niederschläge kam es im bayerischen Bad Reichenhall in Mai und Juni zu einer Erdbebenserie, wobei mehrere Beben schwach verspürt wurden. Das stärkste erreichte Magnitude 2.5. Derartige Erdbebenserien traten dort in der Vergangenheit häufig im Frühjahr auf, wenn Wasser aus Schneeschmelze und starken Niederschlägen tief ins Gestein des Hochstaufen eindringt und dort Erdbeben auslöst.
In der Osteifel ging die übliche, teils schwarmartige Hintergrundaktivität in diesem Jahr nicht über den Durchschnitt hinaus. Zwei spürbare Beben sowie auch einzelne magmatische Erdbeben, die man so langsam doch als Normalität ansehen sollte, sind hier die Jahresbilanz.

Besondere Erdbeben

Wie eingangs erwähnt kam es in diesem Jahr an vielen Orten Deutschlands zu Erdbeben, wo diese sehr selten oder noch gar nicht in historischer Zeit aufgetreten sind. Direkt das erste spürbare Beben des Jahres am 16. Januar fällt in diese Kategorie und wurde sogar zum stärksten natürlichen Erdbeben des Jahres in NRW. Das Beben der Stärke 2.2 ereignete sich am frühen Morgen östlich von Paderborn in Ostwestfalen. Durch die frühe Uhrzeit wurde dieses Ereignis in weiten Teilen des Stadtgebiets wahrgenommen, trotz geringer Intensität. Es ist das erste bekannte spürbare Erdbeben mit Epizentrum in Paderborn, auch wenn verbesserte Überwachung an Rhein und Ruhr in den vergangenen Jahren die Registrierung einzelner schwacher Beben im Umfeld der Stadt ermöglichte. Möglicherweise ein Hinweis darauf, dass kleine Erdbeben in Ostwestfalen gar nicht so selten sind und es bisher einfach nur an Registrierungsmöglichkeiten mangelte. Ein zweites in diesem Jahr folgte nur rund zwei Wochen später am 1. Februar, allerdings in Marienmünster bei Höxter (M2.0). Hierzu liegen aber keine Wahrnehmungsmeldungen vor.
Historisch kennt man auch größere Erdbeben in Ostwestfalen im Bereich von Magnitude 4 aus Bielefeld und Detmold. Diese gehen auf die vermutlich nach der letzten Eiszeit reaktivierte Osning-Überschiebung zurück, die im Süden bis nach Paderborn (!) und im Norden bis nach Niedersachsen reicht. Auch dort, genauer in Bad Essen bei Osnabrück, sorgte ein kleines Erdbeben am 14. Mai für Aufsehen. Zwar war es mit M1.7 sehr schwach, wurde aber von vielen Anwohnern verspürt. Es war das erste instrumentell registrierte natürliche Erdbeben in diesem Teil Niedersachsens.

Als „sehr selten“ ist auch ein Erdbeben Ende Oktober im nordbayerischen Landkreis Rhön-Grabfeld zu klassifizieren. Mit Magnitude 2.4 war es das stärkste dort in den letzten Jahren aufgezeichnete Beben und konnte in bis zu 10 Kilometer Entfernung vom Epizentrum schwach verspürt werden.
Weniger selten aber wegen der regionalen Häufung in diesem Jahr trotzdem als ungewöhnlich empfunden wurden mehrere Beben am Alpenrand. Auf die zuvor angesprochene Aktivität in Bad Reichenhall folgte Ende Juni (unabhängig davon) ein Erdbeben der Stärke 2.7 (mit spürbarem Vorbeben) in Garmisch-Partenkirchen. Deutlich stärker und auch im nächsten deutschen Ort Kiefersfelden stark verspürt wurde ein Erdbeben der Stärke 3.9 im österreichischen Kufstein Ende Oktober. Mit Maximalintensität IV bis V in Kiefersfelden war es von der Intensität vergleichbar mit dem Hauptbeben der Konstanz-Sequenz und verursachte vereinzelte Gebäudeschäden.
Den Schlusspunkt der Erdbeben in Bayern setzte nur sechs Tage später ein Beben der Stärke 2.2 in Lenggries, das schwach verspürt wurde.

Ob als Einzel oder (wie in diesem Jahr) als Doppel: Erdbeben in der Osteifel sind nicht ungewöhnlich. So waren die beiden Erdbeben Mitte Februar in Dieblich nicht stärker (M2.8 und 2.6) als Beben der Vorjahre. Dass die fast exakt im Abstand von 24 Stunden auftraten, beide früh morgen und somit deutlich zu spüren, ist dennoch bemerkenswert.

Induzierte Erdbeben

Induzierte, also menschengemachte Erdbeben sind in den meisten Fällen nicht zu einem Problem geworden, obwohl sie bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts ein steter Begleiter deutscher Bergbauaktivitäten sind. In diesem Jahr hat es in zwei Regionen jedoch für politische Konsequenzen gereicht.

In Niedersachsen gibt es induzierte Erdbeben infolge der Erdgasförderung seit Jahrzehnten. Die beiden Erdbeben am Abend des 20. November (M3.2 und 3.0) waren zumindest für den Raum Verden zwei zu viele. Aufgrund der dutzenden Schadensfälle zog die Betreiberfirma Wintershall die von Politikern und Anwohnern geforderte Konsequenz, die Erdgasförderung am dortigen Gasfeld nicht weiter auszubauen. Das heißt, dass 2036 in Verden kein Erdgas mehr gefördert werden wird und auch die induzierten Erdbeben dort keinen neuen Stärkerekord mehr aufstellen werden. Forderungen eines kompletten Erdgasausstiegs stehen noch im Raum, besonders von Seiten der „Grünen“. Zwar war Verden in diesem Jahr der einzige Ort mit spürbaren induzierten Erdbeben in Niedersachsen, doch ist dies im Vergleich zu den Vorjahren sogar noch eine geringe Aktivität gewesen.

Auch im deutsch-französischen Grenzgebiet brachten Erdbeben ein ambitioniertes Projekt zu einem frühzeitigen Ende. Nördlich von Straßburg ging 2018 ein neues Geothermie-Kraftwerk in den Probebetrieb, welcher nahezu durchgehend von kleinen Erdbeben begleitet wurde. Was man als eindeutige Warnung hätte interpretieren können, hat sich im November diesen Jahres als Warnung bestätigt: Zwei Beben der Stärke 3.1 und 2.6 (sowie zahlreiche kleinere) erschütterten Straßburg und den angrenzenden deutschen Ort Kehl, als der Hauptbetrieb starten sollte, und verursachten einzelne Gebäudeschäden. Das Geothermie-Kraftwerk wurde bis auf weiteres stillgelegt. Für sonstige Geothermie-Anlagen am Oberrhein, die ausnahmslos alle auch eine gewisse Erdbebengeschichte haben, könnte dies in Zukunft wegweisend sein.
Auch an den Kraftwerken Landau und Insheim in Rheinland-Pfalz war das Jahr 2019 nicht erdbebenfrei, wobei jeweils nur ein spürbares Beben zu verzeichnen war.

Ebenfalls in der öffentlichen Kritik (wenn auch nicht wegen der Erdbeben) steht der Tagebau Hambach im Rheinischen Braunkohlerevier. 20 induzierte Beben im Jahresverlauf dort machten den Rhein-Erft-Kreis zu einem der erdbebenreichsten Landkreise des Jahres. Obwohl zum Teil Magnituden jenseits der Wahrnehmungsschwelle erreicht wurden, liegen zu keinem der Erdbeben Wahrnehmungsmeldungen vor.
Anders in Hamm im östlichen Ruhrgebiet, wo relativ überraschend mehr als 10 Jahre nach Ende des Bergbaus Ende 2019 erneut Erdbebenaktivität einsetzte. Drei spürbare Erdbeben, das stärkste mit Magnitude 2.6, wurden verzeichnet. Aufgrund der geringen Herdtiefe war jedoch nur der Südosten der Großstadt betroffen. Eine mögliche Erklärung für das Aufleben der Erdbebenaktivität könnte die geplante Anhebung des Grubenwasserspiegels sein.

Die Flutung ehemaliger Bergwerke führte auch im Kalibergbaurevier in Thüringen in diesem Jahr zu einzelnen spürbaren Erdbeben, darunter eines mit Magnitude 2.2 am 19. Juni in Sondershausen.

Zusammenfassung

Mit 72 spürbaren und rund 340 Erdbeben insgesamt war das Jahr 2019 in Deutschland insgesamt eher durchschnittlich. Auf rund 5% der Fläche der Bundesrepublik erreichten Erdbeben im Laufe des Jahres spürbare Intensitäten. Das entspricht etwa einer Fläche in der Größe von Schleswig-Holstein, auf der Beben verspürt werden konnten. Abhängig von Wohnlage, Tageszeit und Situation bemerkten aber gerade bei niedrigen Intensitäten viele Anwohner nichts davon.
Während manche Erdbeben in einigen der klassischen Erdbebenregionen wenig überraschend kamen, sorgten viele aufgrund ihrer Seltenheit für Erstaunen. Baden-Württemberg ist, vor allem wegen der Erdbebenserie in Konstanz, erneut das erdbebenreichste Bundesland. Gebiete wie der Niederrhein sind (wie auch schon in den Vorjahren) ungewöhnlich ruhig, sodass der äußerst ungewöhnliche Fall eintrat und das stärkste tektonische Beben Nordrhein-Westfalens in Ostwestfalen passierte.
Obwohl auch 2019 ein großes Erdbeben ausblieb (Deutschland ist nun seit 15 Jahren ohne Beben der Stärke 5), führten die moderaten Intensitäten bei einzelnen Beben zu kleineren Gebäudeschäden, vor allem bei den induzierten Erdbeben. In der Earthquake Impact Database sind die Erdbebenschäden in Deutschland in diesem Jahr auf Rang 35 zwischen Argentinien und Venezuela eingeordnet.

Zur vollständigen Erdbebenliste Deutschland 2019