Es ist schon jetzt eine der schwersten Erdbebenkatastrophe in der Geschichte des Landes, obwohl das genaue Ausmaß noch immer nicht vollends erfasst ist. 950 Tote, Hunderte Verletzte und Dörfer, die nicht mehr existieren. Das nächtliche Erdbeben im Südosten von Afghanistan hat die Menschen überrascht und viele Leben gekostet. Mehr als man es normalerweise von einem Erdbeben dieser Stärke erwarten würde. Gründe dafür gibt es viele. So viele, dass man rückblickend sagen kann: Es war die perfekte Katastrophe.

Magnitude 5.9 bis 6.1. Gewisse Unsicherheiten bei der finalen Bestimmung der Erdbebenstärke gibt es, vor allem aufgrund des lückenhaften seismischen Überwachungsnetzes in Zentral- und Südasien. Doch die Magnitude, unabhängig von der genauen Zahl, ist selten der Hauptgrund für katastrophale Auswirkungen. Viel mehr ist es das Zusammenspiel aus verschiedenen Eigenschaften des Erdbebens und in der betroffenen Region. In Chost und Paktika, den betroffenen Provinzen, kamen viele, wenn nicht sogar alle entscheidenden Faktoren zusammen:

1. Die Tiefe des Erdbebens

Je näher ein Erdbeben an der Oberfläche ist, umso stärker sind die Erschütterungen. Denn bei einem Ursprung in wenigen Kilometern Tiefe liegt weniger Gestein dazwischen, das die Erdbebenwellen dämpfen könnte, als bei 100 Kilometern. Das Chost-Erdbeben ereignete sich in etwa sieben Kilometern Tiefe. Etwas Unsicherheit gibt es, doch das ist weniger als ein durchschnittliches Erdbeben. Somit war die Stärke der Erschütterungen schon deshalb stärker als in den meisten anderen Fällen.

Zum Thema: Die Erdbebenkatastrophe in Nordwasiristan

2. Die Bevölkerungsdichte

Wo Menschen leben, können Menschen sterben. Leben viele Menschen in der unmittelbaren Nähe des Epizentrums, ist die Wahrscheinlichkeit für Todesopfer natürlich höher. Chost und angrenzende Gebiete sind zwar nicht die am dichtesten besiedelten Gebiete des Landes, weisen aber dennoch eine relativ hohe Bevölkerungsdichte auf, vergleichbar mit ländlicheren Regionen in Mitteleuropa. Zudem ist die geringere Bevölkerungsdichte auch noch ein Einflussfaktor für den nächsten Punkt.

3. Bauweise

In vielen ländlichen Regionen Asiens (aber auch Südeuropas) sind Gebäude traditionell gebaut und oft relativ alt. In Afghanistan sind es die klassischen Lehmziegelhäuser, die den klimatischen und natürlichen Bedingungen entsprechend konstruiert sind, aber im Falle eines Erdbebens keinen Schutz bieten. Im Gegenteil. Schon vergleichsweise schwache Erdbeben können diese Gebäude zum Einsturz bringen und Menschen gefährden, die sich innen aufhalten. Dies ist vor allem bedingt durch die…

4. Tageszeit

Trifft ein Erdbeben tagsüber diese Region, sind viele Menschen draußen und gehen ihren Alltag nach. Das aktuelle ereignete sich jedoch in der Nacht und somit zu einer Zeit, wo so ziemlich jeder schlafend im Bett lag. Einstürzende Gebäude waren also voller Menschen.

5. Lebensweise


In Afghanistan leben sehr viele Menschen im gleichen Haushalt und schlafen oft im selben Raum. Zehn oder mehr Bewohner pro Haushalt sind keine Seltenheit. Ein einstürzendes Gebäude kann also alleine schon viele Menschenleben kosten. Im aktuellen Fall gibt es Meldungen, dass sogar eine 17-köpfige Familie, die in einem Haus lebte, komplett ausgelöscht wurde. Zudem erhöht sich mit der Anzahl der Personen auch die Fluchtzeit, wenn es nur eine Tür oder ein Fenster gibt. Zeit, die es hier sowieso nicht gab.

6. Die Dauer des Erdbebens


Seismologische Auswertungen zeigten, dass das Erdbeben selbst, also der Bruchvorgang, nur drei Sekunden dauerte. Drei Sekunden, in denen sich ein riesiger Gesteinsblock um zehn Zentimeter verschoben hat. Durchschnitt sind bei Erdbeben um Stärke 6 etwa fünf bis zehn Sekunden. Was auf dem ersten Blick vielleicht positiv erscheinen mag, relativiert sich, bzw. wird zum kompletten Gegenteil, wenn man die Energie berücksichtigt.
(Hinweis: Die Dauer der spürbaren Erschütterungen nimmt aufgrund von Reflektionen im Gestein mit zunehmender Distanz vom Epizentrum zu. Zeugenaussagen, die von einer Dauer über 30 Sekunden sprechen, widersprechen somit nicht den Messungen.)

7. Die eine Welle


Nicht die Dauer des Erdbebens bestimmt die Stärke (auf dieser Skala), sondern die freigesetzte Energie. Zwei Erdbeben gleicher Stärke setzen also die gleiche Energie frei. Dauert ein Erdbeben länger, bedeutet das, dass sich die Energie über einen längeren Zeitraum entfalten kann, die einzelnen Wellen also schwächer sind oder sich sogar erst aufbauen. Das Chost-Erdbeben war jedoch sehr kurz, das heißt, die gesamte Energie wurde binnen weniger Sekunden freigesetzt. Oder anders ausgedrückt: Es war die erste Welle, die bereits Häuser zum Einsturz gebracht hat. Fluchtzeit, durch Punkt 4 und 5 sowieso schon verlängert, quasi 0. Kaum jemand konnte sich rechtzeitig retten.

Alles, was schlimm laufen kann, ist schlimm gelaufen. Ein sehr flaches Erdbeben traf eine dicht besiedelte Region, in der kaum ein Haus sicher gebaut ist. Die Zeit zur Rettung, kulturell und tageszeitlich bedingt sowieso schon kaum realistisch, wurde durch die physikalischen Eigenschaften auf 0 reduziert und gleichzeitig das sowieso schon gegebene Zerstörungspotential weiter erhöht. Ein Erdbeben wie aus einem Kinofilm. Ein realer Horrorfilm, den Tausend Menschen nicht überlebten.