Der Niederrhein regt sich. In den letzten Wochen kam es im Südwesten von Nordrhein-Westfalen und angrenzenden Gebieten der Niederlande und Belgiens vermehrt zu leichten Erdbeben. Einige davon wurden schwach verspürt, eines auch deutlicher. Insgesamt zeigt sich vor allem im Raum Aachen im Vergleich zu den Vormonaten ein Anstieg der Erdbebenaktivität. Ein typisches Erdbebenhoch, wie man es aus der Vergangenheit kennt. Doch anders als zuletzt 2021 war es nicht eine einzelne aktive Region mit vielen kleinen, sondern diffus verteilte, „größere“ Erdbeben über ein weites Gebiet. Über die oft periodische Erdbebenaktivität in der Euregio Maas-Rhein, Fernwirkungen aus Alaska und der unsichtbaren Basis des Eisbergs.

Erdbebenaktivität im Raum Aachen seit 2019 (Karte) und zeitliche Entwicklung der Beben seit 2019 (Diagramm unten). Deutlich erkennbar ist die Häufung infolge der Roetgen-Erdbebenserie Anfang 2021, wo im Zeitraum die meiste seismische Energie freigesetzt wurde. Die aktuelle Aktivitätsphase im April 2023 zeigte ähnliches, wenn auch ohne räumliche Clusterung. Daten: Erdbebennews, Erdbebenstation Bensberg, KNMI

In den vergangenen zehn Jahren war die Liste spürbarer Erdbeben in der Niederrheinischen Bucht oft überschaubar. Vielleicht Düren, vielleicht ein Ort bei Köln und vielleicht Roetgen. Aber auf mehr als eine Handvoll spürbare Beben kam die eigentlich erdbebengefährdetste Region Mitteleuropas selten. Eine trügerische Ruhe, während andere Erdbebengebiete Deutschlands ihre wohl aktivsten Phasen seit Jahrzehnten erleben.

Dass die Region um Aachen – eigentlich – besonders erdbebengefährdet ist, geht auf mehrere geologische Prozesse zurück. Ausschlaggebend bei der Entstehung der Erdbebenregion sind die Alpen, die vor rund 30 Millionen Jahren durch die Kollision der Kontinente Afrika und Europa entstanden und bis heute wachsen. Durch den Druck aus Süden wurde Europa ein Stück auseinander gezogen: Es entstand ein System aus tektonischen Gräben, darunter Oberrhein– und Niederrheingraben.

Eifel-Vulkan „weckte“ Niederrheingraben

Inzwischen sind die meisten dieser Gräben weitestgehend inaktiv. Für den Niederrheingraben begann vor 700.000 Jahren aber ein zweiter Frühling, als unter der Eifel magmatische Prozesse auflebten. Seitdem hebt sich das Mittelgebirge unter dem Druck aufsteigenden Mantelgesteins um rund ein Millimeter pro Jahr und der Niederrheingraben an der Nordflanke der Eifel fungiert erneut als Ventil, um die Spannung im Gestein abzubauen. Daher sind heute vor allem die südlichsten Gebiete des Grabens aktiv, vor allem die Regionen um Aachen und Düren. Vermutet wird zudem, dass auch das Abschmelzen der Eiszeit-Gletscher vor 15.000 Jahren einen Einfluss hatte.

Zerstörerische Erdbeben um Magnitude 5.5 bis 6 wie in den Jahren 1640, 1692, 1756 und 1878 kommen seitdem immer wieder vor. Geologische Untersuchungen zeigen, dass dies sogar nur die Spitze des Eisbergs ist und auch deutlich stärkere Beben (M6.5+) in der früheren Vergangenheit passiert sind. Durchschnittliche Wiederholungsraten von 500 Jahren für ein Erdbeben über Stärke 6 tragen aber dazu bei, dass die meisten Generationen von großen Katastrophen verschont bleiben. Einerseits natürlich gut, weil Katastrophen seltener sind. Andererseits auch problematisch, weil der angesprochene Eisberg so meist im Verborgenen bleibt und aus dem Gedächtnis verschwindet.

 

Durchschnittliche Häufigkeit von Erdbeben in der Niederrheinischen Bucht

Magnitude Durchschnittliche Wiederkehrperiode Letztes Erdbeben (vor 2023)
2.0 2-4 Monate 14.12.2022 (M2.4 Düren), 05.01.2022 (M2.5 Nörvenich)
3.0 6 bis 12 Monate 25.05.2018 (M3.2 Kinrooi), 21.04.2018 (M3.0 Kerpen)
4.0 5 – 10 Jahre 03.09.2011 (M4.5 Goch), 22.07.2002 (M4.9 Alsdorf)
5.0 ~50 Jahre 13.04.1992 (M5.9 Roermond), 08.11.1983 (M5.0 Lüttich)
6.0 ~500 Jahre 18.02.1756 (M6.4 Düren), 18.09.1692 (M6.2 Verviers)
7.0 ~5000 Jahre unbekannt

In den letzten Jahren war von diesem Eisberg garnichts zu sehen. Seit dem Goch-Erdbeben 2011 gab es am Niederrhein kein größeres Erdbeben mehr. 12 Jahre ohne Magnitude 4, eine deutliche Abweichung zum langjährigen Durchschnitt. So zählt der Niederländische Erdbebenkatalog (einschließlich Beben in Deutschland und Belgien) 25 Erdbeben über M4 zwischen 1911 und 2011, allerdings mit sehr variablen Zeiträumen zwischen einzelnen Beben. Auch bei kleineren Erdbeben lag die Aktivität zuletzt deutlich unter dem Durchschnittswert.

„Zurück zur Normalität“ könnte man also die letzten Wochen nennen. Sechs spürbare Erdbeben in den letzten zwei Monaten, darunter M2-Beben in Maasmechelen (NL), Klimmen (NL), Niederkrüchten und Maastricht (NL), wobei der deutsche Vertreter an der Magnitude 3 kratzte. Auf 12 Jahre Erdbebenloch folgen (mindestens) zwei Monate Erdbebenhoch. Eine plötzliche Trendumkehr, die aber am Niederrhein garnicht so ungewöhnlich ist.

Erdbeben am Niederrhein kommen häufig in Gruppen

In den letzten Jahren und Jahrzehnten waren Erdbeben häufig geclustert, also räumlich und/oder zeitlich gruppiert. Das aktuellste Beispiel ist wohl die Erdbebenserie zwischen Roetgen und Aachen Anfang 2021, wo es innerhalb von drei Monaten zu zehn spürbaren Erdbeben kam, vier davon stärker als Magnitude 2. Ein weiteres Cluster, ebenfalls im Raum Roetgen, gab es 2018. Im Sommer 2013 war die Aktivität großflächiger verteilt. Innerhalb von drei Monaten kam es sowohl in Simmerath, als auch in Roetgen, Stolberg und Eschweiler vermehrt zu kleineren Erdbeben.

Erdbebenaktivität im Raum Aachen seit 2000. Viele Erdbeben sind sowohl räumlich als auch zeitlich gruppiert. Deutlich erkennbar (Karte) sind große Erdbebencluster bei Roermond (Nachbeben von 1992), Heerlen (Altbergbau-Nachwirkungen) sowie Alsdorf (Haupt- und Nachbeben 2002). Kleinere Cluster finden sich vor allem im Raum Eschweiler – Stolberg – Simmerath. Auch zeitlich zeigen sich wellenartige Häufungen (Diagramm unten) wie 2021, 2018, 2016 oder 2013. Auch die aktuell erhöhte Phase im April 2023 sticht hervor. Während seit einer sehr aktiven Phase 2001 und 2002 die Anzahl der Erdbeben über Magnitude 2 weitestgehend rückläufig war, konnten durch verbesserte Überwachung mehr Mikrobeben um Magnitude 0 registriert werden. Daten: Erdbebenstation Bensberg.

Man kann auch vereinfacht sagen: Größere Erdbeben rund um Aachen kommen oft (aber nicht immer) in Wellen. Da es sich in der Region um einen tektonischen Graben handelt, gibt es sehr viele kleine Bruchzonen, an denen Erdbeben entstehen können. Diese Bruchzonen sind oft überlappend und ineinander übergehend. Ein Erdbeben an einer Stelle kann sich also einfach auf eine unmittelbar angrenzende Störung auswirken und dort ein neues Erdbeben auslösen. Für Erdbebencluster sind die Bedingungen ideal.

Das Roermond-Erdbeben 1992 zeigte dies deutlich. Neben der normalen Nachbebensequenz, die sich auf das Gebiet zwischen Roermond und Heinsberg beschränkte, kam es innerhalb weniger Tage zu spürbaren Beben in Eschweiler (M3.5 und 2.9 als Teil eines Erdbebenschwarms), Baesweiler (M4.1) und Niederkassel (M2.5) sowie zu einzelnen Mikrobeben in Alsdorf, Stolberg, Übach-Palenberg und Würselen.

Fernwirkungen großer Erdbeben können Störungen am Niederrhein aktivieren

Gleichzeitig zeigte die Vergangenheit, dass Erdbeben am Niederrhein nicht nur miteinander interagieren, sondern auch auf entfernte Beben reagieren. Eine Serie von Mikrobeben in Eschweiler im Jahr 2021 zum Beispiel folgte nur wenige Stunden auf ein großes Erdbeben (M8.2) in Alaska. Eine Studie der Ruhr-Universität Bochum sieht einen klaren Zusammenhang. Auch die Roetgen-Sequenz Anfang des Jahres begann nur wenige Tage nach dem großen Erdbeben in Kroatien, eine weitere im Jahr 2018 folgte Tage nach einem großen Erdbeben (M7.8) in Neuseeland. Bekanntestes Beispiel ist jedoch das Dürener Erdbeben 1756 (M6.4), das Teil eines massiven Erdbebenclusters im gesamten südlichen Rheinland war. Dieses begann unmittelbar nach einem gewaltigen Erdbeben (M8.5) vor der Küste von Portugal.

Das Auslösen von anderen Erdbeben in großer Distanz nennt sich Dynamic Triggering. Dabei interagieren die oft energiereichen (aber auf die Entfernung nicht mehr für Menschen spürbaren) seismischen Wellen großer Erdbeben mit meist oberflächennahen Störungszonen. In solchen Störungen befinden sich oft natürliche Fluide, also Grundwasser und manchmal auch Gase. Diese können durch die seismischen Wellen zur Bewegung angeregt werden. Dadurch können sie wie ein Schmiermittel wirken und an der Störung ein (oder mehrere) Erdbeben auslösen. Je nachdem, wie lange die Fluide in Bewegung bleiben, kann dies auch mit einigen Stunden oder Tagen Verzögerung geschehen und sogar länger anhaltende Erdbebenschwärme verursachen.

Ob diese Interaktion aber tatsächlich stattfindet, hängt von vielen Faktoren ab, darunter Orientierung der Störung, Winkel und Entfernung zum Erdbebenherd sowie Frequenzbereich und Energie. Also unterm Strich: Nur sehr wenige Erdbeben haben das Potential, an einem bestimmten Ort in großer Distanz neue Erdbeben zu triggern. Ob sie das dann auch tatsächlich tun und in welchem Ausmaß dies geschieht, ist nochmal eine andere, unlösbare Frage.

Kleine Erdbeben erinnern an potentielle Gefahr

Am Niederrhein ist dies offenbar manchmal der Fall und hat in den letzten Jahren für die ein oder andere Phase erhöhter Aktivität gesorgt. Das neue Erdbebenhoch der letzten Wochen kann aber, wie einige andere frühere Wellen auch, keinem entfernten Erdbeben zugeordnet werden. Das Türkei-Erdbeben (M7.8) im Februar hätte zwar durch seine Stärke Triggerpotential, liegt aber bereits relativ lange zurück. Auch die Tatsache, dass kein wirklicher Erdbebenschwarm involviert war, spricht gegen einen externen Auslöser.

Es ist also eine Häufung infolge der normalen Aktivität. Eine Häufung, die in einem langen Zeitraum unterdurchschnittlicher Aktivität heraussticht, aber nicht außergewöhnlich ist. Aber auch eine Häufung, die daran erinnern sollte, dass die Region Aachen seit über 20 Jahren Glück hatte. Das nächste große Erdbeben kommt bestimmt. Solange regelmäßig zumindest schwache Erdbeben verspürt werden, bleibt diese Gefahr zumindest im Hinterkopf. Lange Phasen der Inaktivität können jedoch falsche Sicherheit vortäuschen, sodass die Bevölkerung beim nächsten größeren Erdbeben unvorbereitet ist.

Zwar ist eine Abschätzung, ob und in welchem Ausmaß die aktuelle Aktivitätsphase andauert, nicht möglich. Aber das nächste Erdbebenhoch kommt bestimmt. Wann es kommt und was es bringt – wieder nur Magnitude 2-3, die statistisch fällige Magnitude 4 oder ob sich sogar der Rest des Eisbergs zeigt – bleibt eine offene Frage.